„Miststück, Meuterei, Missetat, Mord“ – mit diesem Zitat war die dreiteilige Performance-Reihe des fringe ensembles überschrieben, die Lewis Carrolls berühmtes Kinderbuch „Alice im Wunderland“ zum Ausgangspunkt hat. Nun folgt mit „Wunderland ist überall!“ der vierte und letzte Teil, der, so Regisseur Frank Heuel, den Alice-Stoff einmal mehr als „Folie für eine Welt begreift, die jenseits einer Logik operiert und die upside-down ist“. Wie bereits in den vorgehenden Teilen hat das fringe ensemble fünf Autor:innen aus Burkina Faso, Polen/Österreich, Deutschland, der Türkei und Lettland beauftragt, den Alice-Stoff als Sprungbrett für eine Beschreibung ihrer Weltsicht zu benutzen – diesmal mit der Lizenz, sich von Carroll auch weiter zu entfernen. So wird sich bei Kaska Bryla die berühmte Raupe während einer Zugfahrt über das deutsch-polnische Verhältnis auslassen; Ceren Ercan reflektiert die wirtschaftliche Situation in der Türkei, in der die Regierung staatliche Ländereien an ausländische Investoren verscherbelt; die burkinische Autorin Kibsa Anthony Ouédraogo schildert die Reflektionen eines afrikanischen Mädchens, das bei der Flucht nach Europa ins Mittelmeer fällt und zu ertrinken droht.
So thematisch unterschiedlich die Texte sind, so sehr sie sich vom Dialog über den Monolog bis zu live geschriebenem Material formal unterscheiden – zusammengehalten werden sie durch ein einfaches Bild. „Wir bauen ein Wunderland für die Zuschauer:innen“, sagt Frank Heuel, „einen sehr offenen Raum, in dem sich die Zuschauer frei bewegen können.“ Dabei leuchten die Texte, zu denen noch Original-Texte von Lewis Carroll hinzutreten, wie Spots unterschiedliche Aspekte der aktuellen Welt aus, die auf dem Kopf zu stehen scheint.
Anders als bei den drei vorausgehenden Performances, die jeweils nur wenige Tage geprobt wurden, gönnt sich das fringe ensemble diesmal einen längeren Probenprozess. Trotz dieser intensiveren Auseinandersetzung möchte Frank Heuel die bisherige „Form der Entspanntheit“ seiner Performer:innen bewahren. Und vielleicht überträgt sich diese Gelassenheit auch auf die Zuschauer, denn ihnen dürfte es derzeit nicht anders gehen als der kleinen Alice: „Denn in kurzer Zeit waren Alice ja schon so viele seltsame Dinge zugestoßen, dass sie kaum noch etwas für unmöglich hielt.“
Wunderland ist überall | R: Frank Heuel | 8.9., 9.9. , 6. - 8.10., 22.10. | Theater im Ballsaal Bonn | 0228 79 79 01
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
Wahllos durch die Zeitebenen
„Schlachthof Fünf“ am Theater im Ballsaal – Auftritt 04/24
Tennismatch der Kühe
„Mata Dora“ in Köln und Bonn – Tanz in NRW 03/24
„I am present but I don‘t exist“
West Off 2023 in Bonn, Köln und Düsseldorf – Prolog 11/23
Zu den Schumanns nach Bonn
Sommerveranstaltungen des 24. Schumannfests – Klassik am Rhein 07/23
Politische Wucht
„Cotton Club“ in Bonn – Theater am Rhein 03/23
Gesellschaftlicher Seismograph
8. Internationales Bonner Tanzsolofestival – Tanz in NRW 03/23
Koloniale Abhängigkeit
„Cotton Club“ am Theater im Ballsaal – Prolog 02/23
Die Naturgewalt Mensch
„Stürmen“ am Theater im Ballsaal – Theater am Rhein 03/22
„Wir leben in stürmischen Zeiten“
Frank Heuel über das neue Stück des fringe ensembles – Premiere 02/22
Smoothies der Kunst
„Clara“ im Theater im Ballsaal – Theater am Rhein 05/19
Ertrag des Müßiggangs
Das Bonner fringe ensemble ist durch London flaniert – Theater am Rhein 11/18
Ausgrenzung der Kurden
„Anziehungskräfte“ im Theater im Ballsaal – Theater am Rhein 07/18
Kampf gegen Windmühlen
„Don Quijote“ am Theater Bonn – Prolog 11/24
Keine Macht den Drogen
„35 Tonnen“ am Orangerie Theater – Prolog 10/24
Die Maximen der Angst
Franz Kafkas „Der Bau“ in der Alten Wursterei – Theater am Rhein 10/24
Die ultimative Freiheit: Tod
„Save the Planet – Kill Yourself“ in der Außenspielstätte der TanzFaktur – Theater am Rhein 10/24
Wenn das Leben zur Ware wird
„Hysterikon“ an der Arturo Schauspielschule – Prolog 10/24
Spam, Bots und KI
„Are you human?“ am Theater im Bauturm – Prolog 10/24
Wege in den Untergang
„Arrest“ im NS-Dokumentationszentrum Köln – Theater am Rhein 10/24
Die KI spricht mit
Franz Kafkas „Der Bau“ in der Alten Wursterei in Köln – Prolog 10/24
Diskussion ohne Ende
„216 Millionen“ am Schauspielhaus Bad Godesberg – Auftritt 10/24
„Das Ganze ist ein großes Experiment“
Regisseurin Friederike Blum über „24 Hebel für die Welt“ in Bonn und Köln – Premiere 10/24
Das schöne Wesen aller Dinge
Festival Spielarten 2024 in NRW – Prolog 09/24
Getanzter Privilegiencheck
Flies&Tales zeigen „Criminal Pleasure“ am Orangerie Theater – Prolog 09/24
Die Erfindung der Wahrheit
NN Theater Köln mit „Peer Gynt“ im Friedenspark – Auftritt 09/24