Der Schönling Dorian betrachtet, ganz Narziss, sein Spiegelbild im Wasser und ist verliebt in das, was er sieht. Angebetet wird er dabei auch von den anderen, die einen Kult um seine Schönheit bilden. In einem Streifzug durch die Kunstgeschichte entstand das Stück des Kollektivs Spiegelberg („Raub – nach Schiller“), das versucht, der Schönheit, der Jugend und der Liebe auf den Grund zu gehen.
2018 formierte sich die Gruppe aus Schauspielern, Musikerinnen, Bühnenbildnern, Dramaturginnen und Videobildkünstlern. Ihr aktuelles Entwicklungsstück entstand in Zusammenarbeit der zwölf Mitglieder im Laufe eines Jahres und findet im Kunsthaus Rhenania am Kölner Rheinauhafen zur Aufführung. Seit Anfang September ist die neue Kulturstätte unter dem Namen „Kunsthafen“ in der Hand von Lenah Flaig, Nadine Kiala und Christian Wagner, einem Veranstaltungsteam aus Köln-Mülheim.
Es ist ein wahrhaft besonderer Raum, den das Kollektiv bespielt. Vor Beginn sind die Türen zur Straße und zum Hafen noch geöffnet; hier kann das überwiegend junge Publikum mit Blick auf den Yachthafen und die Kranhäuser rauchen und nordisches Flensburger Bier mit ploppenden Deckeln trinken. Sechs kantige, weiße Säulen tragen die Decke des Saals, dahinter ist goldene Isolierfolie zeltartig aufgespannt. Weiße Holzkonstruktionen und nackte Schaufensterpuppen schaffen eine postapokalyptisch anmutende Atmosphäre. Eine große Fotoprojektion im Zentrum des Raumes zeigt die fünf Darsteller, die sich, wie im Harry Potter-Universum, leicht bewegen.
Performance-Installation
Stimmen aus dem Off unterhalten sich, über Dorian und sein Bildnis, und darüber, wie Schönheit anzieht, verführt, hypnotisiert. Die Schauspieler schleichen in zum Setting passender, beige-weißer Kleidung barfuß auf die Bühne. Sie sprechen Kunstworte nach außen, oft gleichzeitig, markieren die Eckpunkte des Kollektivs. Als „wir“ philosophieren sie über duftende und bunte Worte, nur beleuchtet vom Licht des Deckenprojektors, der sich öffnende Blumen auf die Säulen wirft. Zwei weitere Projektoren sind beweglich und an Handys angeschlossen, können von den Darsteller gehalten und gerichtet werden.
„Wir hatten das Bühnenbild recht früh erstellt, eigens für diesen Raum“, erzählt Güneş Aksoy, die gemeinsam mit German Arefjev an den projizierten Videos gearbeitet hat. „Dann haben wir die Schauspieler in die Installation gebracht, einmal andersherum.“ Alles ist jedoch voneinander abhängig. Die Projektionen entstanden durch die eigene künstlerisch schaffende Arbeit. Später im Stück kriechen so auch mal Raupen im Kaleidoskop über Decke und Säulen: Aksoy bestätigt, sie habe die Tiere eine Woche lang zu Hause gehabt und gefilmt.
Was für ein Gott wir doch sind
Anna-Lea Weiand liefert dazu sphärische und Techno-beeinflusste Musik. Mit Effektgeräten verzerrt sprechen die Schauspieler teils mehrere Stimmen, die Grenzen des Ich sind geöffnet: „Was für ein Gott wir doch sind.“ Irgendwie nach Intimbereichen aussehende Haut-und-Haar-Bilder legen sich über eine Szene, in der eine der Puppen erst geschminkt wird, dann immer blutverschmierter aussieht. Der Schönheitskult fordert seine Opfer, wenn er um jeden Preis ausgeübt wird. „Ohne deine Kunst bist du nichts.“
„Wir zeigen, was für eine Relevanz so ein Text heute noch hat“, erklärt Dramaturgin Sarah Youssef. „die Schein-Welt der Social Media, Schönheits-OPs; die ganze visuelle Welt missbraucht – immer geht es darum, Sachen zu verschönern, statt sie selbst sein zu lassen. Ich meine, wir machen es doch alle – folgen Idealen oder der Idee von Idealen.“ Was infolge dieser Überlegungen entstand, ist ein knapp zweistündiges Monster von einem Stück, prall gefüllt mit Querverweisen, Texten und Bildern. Auch Shakespeare ist dabei, Baudelaire, Pina Bausch-inspirierte Choreografie, grotesk-brutale Dalí-Texte, Nietzsches Philosophie – die Programmliste ist lang.
„Wir machen es doch alle“
Die Schauspieler oszillieren zwischen Selbstdarstellung, Fremdinszenierung und einer hohlen Existenz als reiner Projektionsfläche. Alles wird gespiegelt, real in den zwei großen Spiegeln, die umhergeschoben werden und auf denen man sich positioniert, und auch inspiriert im Spiel gedoppelt. „Jeder Trieb, den wir ersticken möchten, wühlt sich im Geiste fort“, sagt Wilde, deklamieren die Schauspieler; und mit quäkenden Gollum-Stimmen wollen sie den Menschen zur Sünde verführen.
Es sind so viele starke Eindrücke, Ideen und schwindelerregend psychedelische Bilder, dass man daran erst einmal zu verdauen hat. Im Zwielicht der Projektionen folgt die Inszenierung stark der Traumlogik und Gemäldekomposition und lässt die Realität fragwürdig erscheinen. Dalís Vision scheint erfüllt: „Eines Tages wird man offiziell zugeben müssen, dass das, was wir Wirklichkeit getauft haben, eine noch größere Illusion ist als die Welt des Traumes.“
Die Schönen und die Genialen | R: Spiegelberg | 18., 19., 30.9. - 3.10. je 20 Uhr | Kunsthafen im Rhenania | offticket.de/veranstaltungen/weristspiegelberg
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