Erst nachdem man das Stück „Superversammlung/superassemblage“ des Performancekollektivs SEE! (S.E. Struck und Alexandra Knieps) gesehen hat, versteht man, was mit der Ankündigung wirklich gemeint war. „Ungehörte Stimmen“ sollten versammelt werden, die „Momente der Unterdrückung und die damit verbundenen physischen Explosionen“.
Die Performerinnen Kristina Brons, Montserrat Gardó Castillo und Senem Gökçe Oğultekin arbeiten in ihren Darbietungen eher mit Lauten als mit Text. Überhaupt scheinen sämtliche Begriffe, mit denen man üblicherweise versucht, etwas zu beschreiben, hier nicht mehr zu greifen. Was da auf der Bühne stattfindet, ist ein Schreien, Quieken, Ächzen, Jaulen, Stöhnen, Quietschen, Jammern; dazu ausdruckstänzerische Bewegungen, deren Bedeutung sich nicht wirklich erschließt. Kann, muss man das so ernst nehmen, wie es der Großteil des Publikums scheinbar tut?
Auseinandersetzung mit kulturellen Zwängen
Von Beginn an ist die Inszenierung eine Herausforderung für alle Sinne. Zunächst muss man minutenlang einzelnen, effektverzerrten Gitarrensaiten lauschen; Trommelfellschreddern zu einem Leuchten und Blitzen der Bühnenbeleuchtung. Jede Performerin entdeckt ihre inneren Stimmen auf ihre eigene Art und Weise, und es ist schon teils faszinierend, was da aus einem menschlichen Körper herausgeholt werden kann. Dann werden Namen aufgesagt, zu denen bestimmte Choreografien zu gehören scheinen.
Die „Stimmen“ bewegen sich zwischen musikalischen Anklängen, Stimmübungen und akustischer Folter, über die Grenzen des Erträglichen hinaus. Es folgt wieder verstörend absurdes Gehampel zu Turnschuhgequietsche. Auf die Dauer, und das ist zum Glück nur eine knappe Stunde, wecken die Darbietungen Fluchtgedanken. Die Provokation muss beabsichtigt sein, sollen doch innere Laute nach außen kommen, die bei einem jeden schon von frühester Kindheit an gemaßregelt und unterdrückt werden. Das zu hören sind wir nicht mehr gewohnt, und wir wissen vielleicht auch nichts mehr damit anzufangen. Doch man wird gezwungen, sich mit diesem Verdrängten auseinanderzusetzen.
Vier Männer und ein Tisch
Im Anschluss war an zweien der drei Aufführungstage (16.-18.10.) noch ein weiteres Stück zu sehen: das 2019 mehrfach im Ruhrgebiet uraufgeführte „in decent times“, Physical Theatre von Constantin Hochkeppel (KimchiBrot Connection). Diesmal stehen vier Männer auf der Bühne, das Publikum wandert vom ersten Saal der TanzFaktur zum nächsten. In der Werkshalle, wo die Plätze mit warmen Decken ausgestattet sind, warten im Scheinwerferlicht bereits Micha Baum, Wayne Götz, Emmanuel Edoror und Faris Saleh. Das Stück, das die Grundfesten unserer Gesellschaft neu verhandelt, wurde bereits mit dem KunstSalon Theaterpreis 2020 ausgezeichnet.
Die Darsteller sammeln im Raum verstreutes Geschirr auf, um den Tisch zu decken, und müssen sich loriotesk gleichzeitig hinsetzen. Gegen die Spannungen, die zwischen ihnen zu spüren sind, sagen sie Redewendungen auf, Witze in „Das wird man wohl noch sagen dürfen“-Manier, befinden sich in stetiger Wiederholung. Zu essen gibt es Specksteine. Darauf wird herumgekaut, beim Sprechen staubt es gehörig. Es sind die angestaubten Traditionen, die immer und immer wieder wiederholt werden müssen, so inhaltslos sie mittlerweile auch geworden sind.
Sex, Mord und Ententanz
Sie tanzen Volkstänze bis zur Verhakelung und Aggressivität; doch die Wut muss unterdrückt werden, damit die eingeprägten Muster weiter wiederholt werden können. Das Lachen, das so manchen Zuschauer bis dahin geschüttelt hatte, bleibt trocken im Halse stecken, als die Handlung nahtlos in die Darstellung von Sexismus und (Macht-)Missbrauch übergeht. Zum überbordenden „Danse Macabre“ von Saint-Saëns gibt es gleichzeitig Sex, Mord und Ententanz in irrsinniger Geschwindigkeit. Kopfüber am Tisch sitzend befindet einer: „Alle Menschen sind vor dem Gesetz Brei.“
Die Zuspitzung findet, man ahnt es schon, in dem Moment statt, in dem einer sagt: „Ich kann so nicht weitermachen.“ Es regnet Staub und Wasser und die Hölle bricht los, bis er wieder eingereiht wird. Im Handgemenge wird plötzlich ein großes Stück Stein auf dem Kopf eines der Performer in zwei Stücke gehauen, dieser geht zu Boden. Immer noch lachen manche – mit hysterischem Unterton. Die Inszenierung nähert sich wieder dem Anfang. Bloß jetzt sind sie nur noch zu dritt.
So entblößt, geradezu nackt hat man unsere gesellschaftlichen Normen wohl lange nicht mehr gesehen. Schön ist auch das Wortspiel des Titels: Befinden wir uns nun „in decent times“, oder ist das, was da stattfindet, eher „Indecent“, unsittlich? Auf diesem Wege lässt sich sogar ein Bogen schlagen zu dem ersten Stück des Abends, der „Superversammlung“. Vieles ist in Zeiten der Krise bereits aufgebrochen; wir halten mit ausgestreckter Hand inne und besinnen uns, das Händeschütteln zu lassen. Küssen, Tanzen, gemeinsames Feiern – alles müssen wir nun hinterfragen. Die aktuell zum Zerreißen gespannte Sensibilität, die Sprache und Humor zu zerpflücken beginnt, lädt zur Betrachtung der eingefahrenen Strukturen ein. Und vielleicht können wir einige von ihnen in ihrem ewigen Kreislauf durchbrechen, bevor es wieder bis zum Totschlag gehen muss.
Superversammlung/superassemblage | Ch: S.E. Struck | WA im Frühjahr 2021 | TanzFaktur
in decent times | Ch: Constantin Hochkeppel | WA ab Januar 2021 geplant | TanzFaktur
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
Kleider machen Räume
„Dressing the City und mein Kopf ist ein Hemd #02“ von Angie Hiesl + Roland Kaiser in Köln – Theater am Rhein 06/24
Einfach mal anders
Das stARTfestival der Bayer AG in Leverkusen geht eigene Wege – Festival 04/24
„Ich glaube an die Kraft des Theaters“
Choreograf Constantin Hochkeppel über Physical Theatre – Interview 03/21
Lieber heute statt morgen
Performance-Festival tanz.tausch findet digital statt – Festival 01/21
Kunst und Kaufkraft
wehr51 in Zeiten der Pandemie – Auftritt 12/20
„Ich steh nicht auf Stillstand“
Choreografin SE Struck von SEE! über die Arbeit während Corona – Interview 12/20
Alle inklusive
Festival „All In“ von Un-Label in der Alten Feuerwache – Festival 10/20
Ausgebremst
„Isolation“ im Comedia Theater – Bühne 09/20
Schönheit um jeden Preis
Spiegelbergs „Die Schönen und die Genialen“ im Kunsthafen – Bühne 09/20
Programmstörung
„Screaming Matter“ von El Cuco Projekt – Bühne 02/20
Liebe unterm Regenbogen
„Living Happily Ever After“ von KimchiBrot an der Studiobühne – Bühne 12/19
Nachgeahmtes Leben
„Pasionaria“ von La Veronal im Depot – Tanz 11/19
Tanzen gegen Rassentrennung
„Hairspray“ am Theater Bonn – Theater am Rhein 11/24
Biografie eines Geistes
„Angriffe auf Anne“ am Theater der Keller – Theater am Rhein 11/24
Selbsterwählte Höllen
„Posthuman Condition“ am FWT – Theater am Rhein 11/24
„Die Hoffnung muss hart erkämpft werden“
Regisseur Sefa Küskü über „In Liebe“ am Orangerie Theater – Premiere 11/24
Kampf gegen Windmühlen
„Don Quijote“ am Theater Bonn – Prolog 11/24
Die ultimative Freiheit: Tod
„Save the Planet – Kill Yourself“ in der Außenspielstätte der TanzFaktur – Theater am Rhein 10/24
Die Maximen der Angst
Franz Kafkas „Der Bau“ in der Alten Wursterei – Theater am Rhein 10/24
Keine Macht den Drogen
„35 Tonnen“ am Orangerie Theater – Prolog 10/24
Wenn das Leben zur Ware wird
„Hysterikon“ an der Arturo Schauspielschule – Prolog 10/24
Wege in den Untergang
„Arrest“ im NS-Dokumentationszentrum Köln – Theater am Rhein 10/24
Spam, Bots und KI
„Are you human?“ am Theater im Bauturm – Prolog 10/24
Die KI spricht mit
Franz Kafkas „Der Bau“ in der Alten Wursterei in Köln – Prolog 10/24
„Das Ganze ist ein großes Experiment“
Regisseurin Friederike Blum über „24 Hebel für die Welt“ in Bonn und Köln – Premiere 10/24