The Farewell
USA, China 2019, Laufzeit: 98 Min., FSK 0
Regie: Lulu Wang
Darsteller: Awkwafina, Zhao Shuzhen, X Mayo
>> dcmworld.com/portfolio/the-farewell
Tragikomödie über kulturelle Identitätssuche
In der fremden Heimat
„The Farewell“ von Lulu Wang
Die Culture-Clash-Komödie entwickelt ihren Witz aus den Missverständnissen und Vorurteilen zwischen zwei Kulturen. Die kulturellen Unterschiede sind daher klar gezeichnet, ebenso die Orientierungspunkte. Wenn einer Figur im Kino hingegen die Orientierung verloren geht, landet man beim Psychothriller. Lulu Wangs tragikomischer Culture Clash in „The Farewell“ erzählt von Desorientierung, und das macht ihn psychologisch so viel spannender als das Gros des Genres: Billi ist mit sechs Jahren von China in die USA gekommen. Ihre alte Heimat kennt sie nur aus Erzählungen, auch ihre Eltern haben sich hier vollkommen integriert. Sie alle sprechen nach 25 Jahren nicht nur fließend Englisch, sie sprechen auch untereinander kein Chinesisch. Als Billi erfährt, dass ihre geliebte Nai Nai – so nennt man die Großmutter auf Mandarin – unheilbar an Lungenkrebs erkrankt ist, ist sie ebenso entsetzt wie ihre Eltern. Noch mehr ist sie jedoch darüber schockiert, dass Nai Nai selber von ihrem Schicksal nichts ahnt. Ihre chinesische Familie lässt sie traditionellerweise im Glauben, sie sei kerngesund. Denn zum einen denkt man in China nicht individualistisch, sondern will kollektiv anstelle der Kranken die Bürde schultern. Zum anderen geht man in China davon aus, dass vor allem das Wissen um die Krankheit zum sicheren Tod führt. Billis Eltern reisen sofort nach Changchun zu Nai Nai. Billi, von der alle fürchten, dass sie die Lüge auffliegen lässt, reist ihnen heimlich nach, spielt die Inszenierung aber mit: Die gesamte Großfamilie ist unter dem Vorwand, dass Billis Cousin heiratet, angereist, um Nai Nai noch einmal sehen zu können. Sie sind also todtraurig, während sie vor Nai Nai die fröhlichen Hochzeitsgäste geben müssen...
Lulu Wangs „The Farewell“ ist nicht nur von autobiografischen Migrationserfahrungen geprägt, auch die Geschichte um die sterbenskranke Großmutter entspringt ihrem Leben. Was sofort wohltuend auffällt: An Äußerlichkeiten kann man die Figuren in ihrem Film schon mal nicht zuordnen. Ob aus den USA, aus Japan oder China – chinesisch sehen sie natürlich alle aus. Aber ähnliches Aussehen ist ebenso wenig ein Hinweis auf ähnliche Lebenserfahrungen wie unterschiedliches Aussehen auf unterschiedliche Herkunft rückschließen lässt. Dass im ganzen Film kein einziger Weißer auftaucht (obwohl das etliche Produzenten – auch chinesische – forderten) und zugleich ein heilloses Sprachenwirrarr herrscht (was etlichen Produzenten missfiel), ist sicherlich nur die erste von vielen kommerziellen Risiken, die die amerikanische Regisseurin mit ihrem Film eingeht. Auch ist der Film fast vollständig in jener zigfachen Millionenstadt im Norden Chinas angesiedelt, in der Billi geboren wurde, von der in den USA oder Deutschland aber wohl nur eine Minderheit je gehört hat. Dass Billi mit ihrer Reise zur Familie keine Reise in die Heimat antritt, wird schnell klar.
Nora Lum alias Awkwafina, die als Rapperin, aber vor allem als Schauspielerin aus Filmen wie „Crazy Rich Asians“ oder „Ocean‘s 8“ einem Millionenpublikum bekannt ist, spielt Billi komplett unglamourös. Sobald ihre Figur in China eintrifft, verändert sich ihre Körperhaltung zudem ganz merkwürdig: Die Schultern gehen nach vorne, sie bekommt einen Buckel. In den USA wird Billi vielleicht immer wieder mal als Chinesin gesehen. Dass sie sich in China mehr denn je als Amerikanerin sieht und in der Kultur ihrer Familie nirgendwo Anschluss findet, schreibt sich in ihre Körperhaltung ein. Aber auch ihre Nai Nai fühlt sich der Heimat entrissen. Denn bei der rasenden Geschwindigkeit, mit der sich China ändert – zuletzt Thema in chinesischen Filmen wie „Asche ist reines Weiß“ oder „Bis dann, mein Sohn“ – muss man gar nicht den Ort wechseln, um seine Heimat zu verlieren. In China, wo nach wenigen Jahren ganze Städte nicht mehr wiederzuerkennen sind, kann man auch eine Heimat verlieren, obwohl man seit Jahrzenten im selben Viertel wohnt. Das Gefühl der Migration ohne Bewegung. „The Farewell“ – zu Deutsch: der Abschied – erzählt auf faszinierende, weil alle Widersprüche bewahrende Art in komischen, tragischen und berührenden Details von diesen Gefühlen der Entfremdung.
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