Wer denkt, man könne mit Kindern im Winter nur zu aufwendig inszenierten Musicals oder etwa Eisprinzessinnen-Shows gehen und deswegen erst gar nicht geht, liegt falsch und tut den Kindern damit unrecht. Das beweist das Stück „Das hässliche Entlein“ an diesem Mittwochvormittag im Kölner Horizont Theater. Gespannt und interessiert starren die Augen der Sprösslinge auf den Antihelden des heutigen Theaterstückes von Regisseur, Schauspieler und Autor Aydın Işık: Im Mittelpunkt des Geschehens steht hier keine makellose 0815-Beauty, sondern im Gegenteil ein verlorenes, gar hässliches, graues und dickes Entlein, das sogar von den doofen Wasserflöhen gehänselt wird. Antiheldenhaft und anti-darwinistisch ist schon das Ei des Nachzöglings vor dem Schlüpfen kleiner als das seiner Geschwister. Die massive Schale symbolisiert das versteinerte Kind zu Beginn des Lebens, das gar nicht aufbrechen will. Stattdessen ist es ein Spätzünder. Nachdem die schöne gelbe Schwester „Enteli“ (Signe Zurmühlen) zunächst verwundert ist, wie lange es dauert, bis ihr Schwesterchen geschlüpft ist, und wie diese aussieht, versucht sie fortan, der allem Anschein nach hässlichen „Grauline“ (Lisa Heck) Flöhe-Jagen beizubringen, Schwimmen, Fliegen und Paddeln. Doch vergeblich. Zu tollpatschig benimmt sich die naive, vermeintlich unschöne Nachzöglerin. Alsbald schlüpft die quietsche-gelbe Schwester in die Rolle einer meckernden Casting-Agentin: „Du fliegst nicht richtig! Du schwimmst ja ganz komisch! Wie siehst du überhaupt aus?“, sich dabei stets Unterstützung aus dem kindlichen Publikum holend, dieses quasi in den Mobbing-Prozess aktiv mit einbindend.
Die Wahl eines Antihelden ist nicht ganz unabsichtlich. „Meiner Meinung nach haben Kindertheaterstücke auch eine pädagogische Verpflichtung und sollten eine angemessene soziale Kompetenz vermitteln“, so Theaterleiter Christos Nicopoulos. „Bei dem hässlichen Entlein ist es zum Beispiel die Diskriminierung des Entleins, das anders aussieht als die anderen.“ Im Unterschied zu seiner hübschen, flauschigen, quietsche-gelben Schwester ist es später deprimierend grau. Die Folge: Das Entlein wird zunehmend trauriger und bleibt schließlich einsam und alleine auf dem Ententeich zurück.
Das Märchen stammt ursprünglich aus dem 19. Jahrhundert, von dem dänischen Dichter Hans Christian Andersen. Der war selber zeitlebens ein Sonderling und wurde wegen seines augenscheinlich seltsamen Aussehens gehänselt. Die in die Gegenwart verlegte Bühnenfassung von Mareike Marx weiß, dass Menschen, nur weil sie anders aussehen oder aus einem anderen Land stammen, noch immer diskriminiert werden. Ferner liegt das Augenmerk auf Inhalten wie Mobbing sowie Erfolgsdruck und Schönheitswahn, das reine Funktionieren an der glatten Oberfläche in einer perfekten Welt. Schikane, die bereits im Kindergarten beginnt und sich bis ins Berufsleben hineinzieht. Spinnt man den darwinistischen Aspekt weiter, geht es sogar noch tiefer: Nämlich um die Auswahlkriterien, nach denen manche (modernen) Eltern sich ihre Kinder aussuchen wollen. Das Kind muss schon vor der Geburt makellos, gesund und erfolgreich sein, die richtigen Gene besitzen.
Zu glauben, dass Kinder diese Themen nicht verstehen, ist falsch. Kinder reagieren sogar teilweise sensibler auf Gefühle als Erwachsene. Wie aber lassen sich Kindertheater und Abendprogramm vereinbaren? Müssen die Schauspieler anders ticken? Und: Wie lässt sich Melancholie kindgerecht darstellen, ohne dauerhaftes Weinen auszulösen? Beim Horizont Theater, das traditionell spezielle Programmpunkte für Kinder bietet, spielen tagsüber die gleichen Schauspieler wie am Abend. „Für das Kindertheater müssen diese jedoch viel präziser im Schauspiel sein, da die Kleinsten der Gesellschaft Emotionen viel stärker empfinden und wahrnehmen und merken, wenn etwas nicht stimmt. Sie machen sich sofort bemerkbar, wenn ihnen etwas nicht passt“, so Nicopoulos.
Und tatsächlich gelingt es den beiden Schauspielerinnen mit ihrer berührenden, aber gleichzeitig humorvollen Darbietung, die Herzen der Kinder zu erreichen, sie traurig zu machen. Sie werden stets zum Singen aufgefordert und Fragen an sie gerichtet. Schließlich wendet sich das Blatt, und die pittoreske gelbe Schwester, die gerade noch über die unschöne und unbeholfene Nachzöglerin lästerte, empfindet zum ersten Mal echte Angst: vor dem Gewitter und vor dem Fuchs, der sie zu fressen droht. Ironischerweise gelingt es der an der Teichoberfläche zunächst stärker anmutenden Schwester plötzlich nicht mehr, die Dinge zu tun, die sie sonst aus ihrer Flosse schüttelt. Stattdessen ist sie in eine Existenzkrise gerutscht, während Grauline plötzlich angstfrei und gelassen dem Gewitter begegnet und die Schwester sogar vor dem Fuchs rettet: Der ist nämlich nicht daran interessiert, sie zu verspeisen, da sie viel zu grau, dick und hässlich ist. Ihre Nonkonformität verleiht ihr Flügel und Mut. Und tatsächlich lachen die Kinder nun über Grauline. Aber nicht aufgrund ihrer Hässlichkeit, sondern „weil sie die besseren Witze macht“, wie Theo, eines der Kinder, später erklärt. Am Ende strahlen die Kinderaugen, als sich die Schwestern in den Arm nehmen und sich Enteli für die Rettung durch ihre Schwester Grauline bedankt. „Vielleicht kriegen wir bald ja noch ein Geschwisterchen mit einer weiteren, anderen Farbe“, lautet das Résumé. „Ja, zum Beispiel ein rotes!“, ruft ein Junge euphorisch aus dem Publikum.
„Das hässliche Entlein“ (ab 3 J.) | R: Aydin Isik | 7., 12., 14.12., 3., 14., 24.1. je 11 Uhr, 15.12. 12 Uhr, 5.1. 14 Uhr, 13.1. 16 Uhr | Horizont Theater | 0221 13 16 04
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