choices: Frau Kautter, Herr Dietrich, das FWT startet mit einem Stück über Sicherungsverwahrung und Maßregelvollzug in die neue Saison. Was macht das Thema so brisant?
Inken Kautter: Der Europäische Menschenrechtsgerichtshof hat 2011 entschieden, dass die Sicherungsverwahrung, wie sie in Deutschland gehandhabt wird, nicht den Menschenrechten entspricht. Das wurde später auch vom Bundesverfassungsgericht bestätigt. Kritisiert wurde das Abstandsgebot, das besagt, dass Menschen in Sicherungsverwahrung anders untergebracht werden müssen als normale Strafgefangene, also dass sie beispielsweise ein Anrecht auf Privatkleidung, Handy oder Fernseher haben. Zweitens dürfen die Gerichte nicht mehr nachträglich, also nach Ablauf der Haft eine Sicherungsverwahrung anordnen.
Und was passiert jetzt mit den Inhaftierten?
Kautter: Diese Häftlinge müssen bis Mai nächsten Jahres freigelassen werden. Außerdem soll bis dahin ein neues Gesetz erlassen und umgesetzt werden – was Fachleute aber für unmöglich halten. Im Moment arbeitet die Politik am sogenannten Therapieunterbringungsgesetz für die Altfälle, das aber letztlich auf eine längere Inhaftierung dieser Menschen hinauslaufen wird.
Ihr Stück basiert auf Recherchen. Wo haben Sie recherchiert?
Kautter: Wir haben Interviews gemacht mit allen Menschen, die in dieser Maschinerie der Sicherungsverwahrung und des Maßregelvollzugs, in dem nicht voll schuldfähige Patienten inhaftiert und therapiert werden, tätig sind. Unsere Gesprächspartner waren Angestellte in Ministerien, Anwälte, Richter, Psychologen, Baudezernenten, Pfleger, aber auch Inhaftierte, die freigelassen wurden.
Für welche Verbrechen kommen Menschen eigentlich in den Maßregelvollzug und mit welchen Gefangenen haben Sie gesprochen?
Kautter: Zehn Prozent der Eingewiesenen sind Sexualstraftäter; da die sehr lange inhaftiert bleiben, machen sie sogar dreißig Prozent der Inhaftierten aus. Es geht um schwere Delikte wie versuchter Totschlag, versuchter Mord, Mord und dabei vor allem um Wiederholungstäter. Wir haben mit einem Pädophilen gesprochen sowie einem Mann, der seine Frau stranguliert hat, weil sie fremdgegangen ist; dann mit jemandem, der schweren Widerstand gegen die Staatsgewalt geleistet hat und vermutlich unter einer manisch-depressiven Erkrankung leidet.
Nico Dietrich: Bei Gericht wird ja nicht nur die Straftat beurteilt, sondern auch, wie schwer die Schuld ist. Im normalen Knast sitzen die voll schuldfähigen, im Maßregelvollzug die teilweise schuldfähigen und die schuldunfähigen Menschen und in der Sicherungsverwahrung die Menschen mit einer besonderen Schwere der Schuld.
Kautter: Das Besondere an Sicherungsverwahrung und Maßregelvollzug ist, dass die Menschen im Unterschied zu anderen Haftformen keine Perspektive haben, wann sie aus der Haft entlassen werden. Sie werden einmal im Jahr oder alle drei Jahre begutachtet und dann wird eine Prognose abgegeben. Die Inhaftierten empfinden das als die größte Beeinträchtigung.
Wie sind Sie mit dem Interview-Material umgegangen?
Dietrich: Der Abend wird für die Zuschauer die Form einer Einreise in die Sicherungsverwahrung haben. Wir bewegen uns durch die Innereien des Theaters, vom Keller über die beiden Bühnen bis nach oben, und begegnen dabei den Menschen, die in diesen Gefängnis-Einrichtungen arbeiten, übrigens nach Gesetzen, die in unserem Namen verabschiedet wurden. Die Schauspieler sind quasi Medien, die diesen Einblick vermitteln sollen. Gleichzeitig möchten wir performativ und lecture-mäßig eine Draufsicht auf das System geben, damit man überhaupt versteht, mit welchen Konflikten die Menschen in den Maßregeln konfrontiert sind. Am Ende werden die Zuschauer dann in den offenen Vollzug entlassen.
Heißt das, Sie schaffen Situationen, die das Publikum einer Gefängnissituation aussetzen?
Dietrich: Nein, wir entwerfen Situationen, in denen die Schauspieler etwas spielen bzw. zitieren. Wir benutzen das Theater, um es mit einem Wort des Regisseurs Hans Werner Kroesinger zu sagen, als „dokumentarisches Analyseinstrument“.
Kautter: Man kann den Besuchern nicht physisch vermitteln, was es heißt, 15 Jahre gefangen zu sein.
Worauf zielt der Abend?
Kautter: Uns geht es vor allem um die Frage, wie viel Sicherheit man durch präventive Haftformen in einer Gesellschaft gewährleisten kann und andererseits, wie viel Freiheit eine Gesellschaft ermöglichen muss, damit sie noch demokratisch genannt werden kann.
Wie ist die aktuelle Entwicklung bei der Sicherungsverwahrung?
Kautter: Es gibt Menschen, die so gefährlich sind, dass sich die Gesellschaft darauf geeinigt hat, sie wegzusperren. Das ist eine Position, hinter die niemand zurückgeht, auch in den Haftanstalten nicht. Das umfasst allerdings nur einen Bruchteil der Inhaftierten in der Sicherungsverwahrung und im Maßregelvollzug. Dort sitzen rund 10 000 Menschen und die Zahl steigt. In NRW wurden allein im letzten Jahr 750 neue Maßregelvollzugsplätze fertiggestellt, Tendenz steigend. Das liegt nicht daran, dass mehr Menschen eingewiesen werden, sondern dass sich die Haftzeiten verlängern.
Woran liegt das?
Kautter: Obwohl es weniger Delikte im Bereich der schweren Kriminalität gibt, steigt das Unsicherheitsgefühl vieler Menschen in Bereichen wie Arbeit, Beruf, Lebenssituation. Wo keine langfristigen Perspektiven mehr bestehen, wird Sicherheit an anderer Stelle greifbar gemacht. Der daraus resultierende gesellschaftliche Druck wiederum macht die Entscheidungsträger wie Psychologen oder Richter immer weniger risikofreudig. Niemand will verantwortlich sein für eine zu frühzeitige Entlassung.
Dietrich: Das Sicherheitsbedürfnis ist explodiert und niemand will das Restrisiko des Lebens akzeptieren. Wir plädieren nicht dafür, alle Türen aufzumachen. Das sind zum Teil wirkungsvolle Maßnahmen, die die Patienten auch vor sich selbst schützen - das sagen auch viele Patienten. Das ändert aber nichts daran, dass stellvertretend eine Masse an Staatsbürgern zu lang oder unverhältnismäßig weggesperrt wird. Das ist Rechtsbeugung.
„Wegschließen – und zwar für immer“ I 1.(P)/5./12./19./20.9. | Freies Werkstatt Theater I www.fwt-koeln.de
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