Es ist ein schlankes kleines Buch mit weniger als 200 Seiten. Aber durch diesen Text fliegt man nicht wie durch eine Sommernovelle. Daniel Woodrell hat mit seinem Roman „In Almas Augen“ eine Geschichte geschrieben, in der Schicksalserfahrung auf eine Weise konzentriert ist, wie man sie nur in Texten von Weltrang antrifft.
1929 ereignet sich im US-Bundesstaat Missouri eine mächtige Explosion, die 42 Menschen in den Tod reißt. Das Unglück ereignet sich während einer Tanzveranstaltung und hinterlässt in der kleinen Provinzstadt unauslöschliche Spuren. Der ortsansässigen Polizei bereitet die Rekonstruktion der Ereignisse große Schwierigkeiten und bald erlahmt dann auch ihr kriminalistischer Ehrgeiz. Während der Wirtschaftskrise in den dreißiger Jahren wird die Aufmerksamkeit der Menschen auf andere Dinge gelenkt, so dass der Fall unaufgeklärt bleibt.
Und dennoch – eine Person weiß, was geschehen ist. Die halbverrückte Dienstmagd Alma DeGeer Dunahew beharrt auch nach Jahrzehnten noch auf ihrer Version des Geschehens. Woodrell nähert sich Almas biblischem Zorn aus der Perspektive des kleinen Enkels, der einen Sommer bei der einsamen Alten verbringen soll. Dabei beginnt sich Almas Zunge zu lösen. Das Panorama einer ganzen Epoche des Südens entfaltet sich, und die literarischen Paten Faulkner und Wolfe stehen Daniel Woodrell zur Seite.
Alles, was ein Epos braucht, ist in diesem kleinen Roman enthalten. Die Armut der kleinen Leute wird ebenso minutiös beschrieben wie die Erfolgsbahn der reichen Familien. Gangster tauchen auf, aber auch Farmer, viele Kinder, es gibt eine Liebesgeschichte um Ruby, Almas schöne Schwester, die sich die Männer nimmt, wie sie ihr gefallen. Es gibt Sex und Verrat, Eifersucht und Leidenschaft, das Leben der Teenager wird ebenso aufgeblättert, wie das des Bankdirektors, der so etwas wie der Herrscher der kleinen Stadt ist. Woodrell rekapituliert die Schicksale der Tanzpaare, und mit jedem Leben eröffnet sich eine neue Geschichte. Sie alle verwebt der Autor zu einem Porträt der Jahre vor und nach dem Zweiten Weltkrieg.
Das Verbrechen verliert er darüber nicht aus dem Auge, und er lässt seine Leser auch nicht mit einer angebrochenen Geschichte zurück. Wenn man einmal in diese sinnliche, erbarmungslose aber auch schöne Welt eingetaucht ist, deren Bilder Woodrell so realistisch wie die Szenen eines Kinofilms entwirft, dann wünscht man sich, dass dieses Buch kein Ende nehmen würde. Mit „Der Tod des Mister Sweet“, dem erfolgreich verfilmten Drama „Winters Knochen“ um ein unbeugsames Mädchen und dem von Ang Lee adaptierten Roman „Wer mit dem Teufel reitet“ legte Woodrell schon mächtig vor. Mit „In Almas Augen“ liefert er jedoch ein Bild der amerikanischen Seele, das man etwa Harper Lees legendärem Bestseller „Wer die Nachtigall stört“ an die Seite stellen könnte; nur erzählt Woodrell mit einen Schuss mehr Gewalt, Sex und Poesie.
Daniel Woodrell: In Almas Augen. Deutsch von Peter Torberg. Verlagsbuchhandlung Liebeskind. 188 S., 16,90 €
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