Theater soll alle Sinne ansprechen – sagt die Theorie. In der Praxis kommt jedoch meist der Geruchssinn zu kurz. Frank Heuel macht in seiner Inszenierung von Brechts „Die heilige Johanna der Schlachthöfe“ vor, was olfaktorisches Theater sein könnte. Da nagt das Elend der Arbeiter dem Fleischbaron Mauler das Gewissen an, schon brät ihm der Makler Slift in Gestalt ein Steak – nicht nur sein Geruch, auch dass es dann als Kunstwerk an die Wand genagelt wird, lässt ahnen, wie zynisch die Reden vom Hunger sind.
Wirkungslos seien die Klassiker, hat Brecht einmal gehöhnt. In wieweit das auch für ihn gilt, wird angesichts des schrankenlosen Kapitalismus derzeit gerne an seiner „Johanna“ aus dem Jahr 1929/30 überprüft. Die titelgebende Heilsarmistin führt einen Kampf gegen die Armut in Chicagos Schlachthöfen. Ihr Gegenspieler ist Pierpont Mauler, der auf ihre Bitten hin den Markt stützt, letztlich aber damit sein Monopol ausbaut. Als sie die Verlogenheit der Heilsarmee erkennt, beteiligt sie sich am Streik, der jedoch scheitert. Sie stirbt als wirkungslose Ikone der Mildtätigkeit. Frank Heuels Inszenierung bleibt eng am Stück und findet sprechende Bilder. Johanna schüttet den vier männlichen Darstellern rote Farbe über die weißen Hemden und Hosen und macht so plakativ deutlich, dass der Schlachthof ein blutiges Geschäft ist – in mehrfachem Sinne. Das Börsenspektakel um die Fleischpreise wird zum wilden Tanz. Während des Dialogs von Mauler und Johanna hocken die Männer nackt in Eisbottich und Kühlfach und lassen sich mit Reisigbündeln durchpeitschen.
Wie üblich beim fringe ensemble wird mit wechselnden Rollenzuschreibungen gearbeitet. So ist Mauler bei Bettina Marugg ein sarkastischer Unternehmer, bei David Fischer, Harald Redmer, Manuel Klein und Andreas Meidinger offenbart er dagegen Wut, Selbstmitleid und Menschenverachtung. Nur die schwangere Justine Hauer kann sich ganz auf die Johanna konzentrieren, die sie als ziemlich raue und robuste Streiterin zeichnet.
In ihrer Ästhetik reagiert diese Inszenierung kongenial auf Brecht: Brechtvorhang und Spielpodest vor drei weißen Folien, die an Schlachterschürzen denken lassen, permanente Anwesenheit der Schauspieler, chorisches Sprechen, Songs – alles da, nur ins Ironische gewendet. Und doch letztlich so virtuos gehandhabt, dass man von einer fringe-Klassizität sprechen kann, die man sich gelegentlich etwas weniger perfekt wünscht. Selbst der Versteigerungs-Showdown, bei dem die Männer mit (geruchslosem) Dung beworfen werden, wirkt in seinem Anspielungsreichtum unangreifbar. Als Störelement der Realität wirken einzig die projizierten Fotos von Mitarbeitern des gerade geschlossenen Kölner Schlachthofs. Am Ende tritt Johanna als in Folie verpackte Märtyrerin ihren Weg in den Supermarkt der Werte an. Verfallsdatum unbestimmt – im Gegensatz zu Brecht, dessen Aktualitäts-Börsenwert nach diesem Abend immer noch im Keller ist.
„Die heilige Johanna der Schlachthöfe“ von Bertolt Brecht
Frank Heuel – fringe ensemble I Bonn: Theater im Ballsaal, 3.-7.11.
Köln: Studiobühne, 8.-12.12., 20 Uhr
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