Wer auf der Suche ist nach einem Grundlagenbuch zur menschlichen Anatomie, findet auf den Titelbildern einschlägiger Fachliteratur vorrangig durchtrainierte Männerkörper. Abbildungen von Frauenkörpern tauchen meist erst dann auf, wenn es explizit um Fortpflanzungsorgane geht. Wie kann das sein? Schließlich besitzen rund 50 Prozent aller Menschen einen Frauenkörper, etwa 0,5 Prozent sind transsexuell. Das Beispiel zeigt: Mensch sein heißt in der Medizin in erster Linie Mann sein.
Der männliche Körper war lange Gold-Standard in der Medizinforschung – und ist es teilweise noch immer. An jungen Männern und männlichen Mäusen wurde vorzugsweise Medikamenten- und Grundlagenforschung betrieben. Mit fatalen Folgen. Medikamente sind für Frauen oft überdosiert, wirken stärker und haben mehr Nebenwirkungen. Dass etwa das Herzschwäche-Medikament Digoxin bei Männern gut wirkt, bei Frauen hingegen zum Tod führen kann, bemerkte man erst Jahrzehnte nach der Zulassung. Ein künstliches Herz gibt es aktuell nur für den Männerkörper, während Krankheitssymptome bei Frauen noch immer häufig fehlgedeutet oder als psychosomatisch abgetan werden.
Biologische Unterschiede
Dass Frauen andere Krankheitsverläufe haben als Männer, liegt nicht zuletzt an biologischen Ursachen. Weibliche und männliche Körper sind unterschiedlich, so haben Frauen zwei X-Chromosomen; Fettanteil, Stoffwechsel, Hormonhaushalt, Anatomie, Immunsystem und Organe sind anders – zumindest im Durchschnitt.Zudem gibt es individuelle und soziokulturelle Faktoren, die beispielsweisedie Lebensführung beeinflussen.
Aber warum hat sich die Medizin so lange am männlichen Körper orientiert? Neben der Tatsache, dass der Mann Jahrtausende langohnehin Standard für alles war, fürchteten Mediziner offenbar, dass mögliche Schwangerschaften und hormonelle Schwankungen ihre Studienergebnisse verfälschten. Nach Kirsten Kappert-Gonther, stellvertretende Vorsitzende des Gesundheitsausschusses, seien außerdem zu wenig Frauen in Schlüsselpositionen im Gesundheitswesen vertreten: „Die gläserne Decke ist dort mindestens so dick wie in den DAX-Unternehmen“, so Kappert-Gonther.
Der Anfang der Geschlechtermedizin
Differenzen fielen zum ersten Mal in den 80er Jahren auf, als Mediziner unterschiedliche Herzinfarkt-Symptome bemerkten. Statt Schmerzen in Brust und Armen, spüren Frauen eher Übelkeit und Rückenschmerzen. Damals entstand die Geschlechter- oder auch Gendermedizin, anfangs mit großem Widerstand von konservativen Medizin-Fakultäten. Seitdem hat sich einiges getan, so müssen Pharmaunternehmen seit 2004 geschlechtsspezifische Unterschiede bei neuen Medikamenten überprüfen. Handlungsbedarf besteht unterdessen noch in der Besetzung von Führungspositionen im Gesundheitswesen. Im Medizinstudium spielen Geschlechterunterschiede meist nur eine untergeordnete Rolle, es mangelt an Aufklärungsarbeit für niedergelassene Ärztinnen und Ärzte.
Durch feministische Theorien wurde biologischen Unterschieden lange Zeit weniger Bedeutung beigemessen, doch im Falle der Medizin führte dies zu Falschbehandlungen und langen Leidenswegen. Hier funktioniert es nur andersherum, gerade um Frauen gerecht zu werden: Biologische Unterschiede müssen untersucht und ernst genommen werden – individuelle sowie jene zwischen Frauen und Männern. Die Gendermedizin berücksichtigt alle Geschlechter, so werden etwa Depressionen bei Männern wegen unterschiedlicher Symptome und gesellschaftlicher Normen seltener diagnostiziert, die Suizidrate ist entsprechend höher. Von geschlechtersensibler Medizin profitieren am Ende also alle.
FRAU ALLEIN - Aktiv im Thema
femmetotal.de | Femme Total in Köln vernetzt Frauen aus der Kreativbranche und beratenden Berufen und bietet Veranstaltungen, Workshops und Seminare an.
www.equalpayday.de | Rechnerisch arbeiten Frauen die ersten 66 Tage des Jahres umsonst. Zum Equal Pay Day am 7. März gibt es Kampagnen und Aktionen.
equalcareday.de | Die Städtekonferenz am 1. März bietet Vorträge, Workshops und Panels zur Sorgearbeit.
Fragen der Zeit: Wie wollen wir leben?
Schreiben Sie uns unter meinung@choices.de
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
Debakel von Delphi
Intro – Frau Allein
Eine Klasse für sich
Ein Feminismus, der sich allein auf Vorstandsposten kapriziert, übt Verrat an Frauen – Teil 1: Leitartikel
„Sorgearbeit wird zum Nulltarif in Anspruch genommen“
Soziologin Uta Meier-Gräwe über Haus- und Erwerbsarbeit von Frauen – Teil 1: Interview
Ein Tabu zu viel
Paula e.V. Köln berät Frauen ab 60 Jahren, die Opfer sexualisierter Gewalt geworden sind – Teil 1: Lokale Initiativen
„Nicht bei zwei Geschlechtern stehen bleiben“
Gesundheitsexpertin Anke-Christine Saß über Gendermedizin – Teil 2: Interview
Gendern rettet Leben
Neue Professur für geschlechtersensible Medizin an der Bielefelder Universität – Teil 2: Lokale Initiativen
Die hormonelle Norm
Zu den Herausforderungen des weiblichen Führungsanspruchs – Teil 3: Leitartikel
„Es ist Frauen wichtig, machtvolle Netzwerke aufzubauen“
Politologin Helga Lukoschat über Frauenquoten und feministische Außenpolitik – Teil 3: Interview
Angst-Räume beseitigen
Die Wuppertaler Stabsstelle für Gleichstellung und Antidiskriminierung – Teil 3: Lokale Initiativen
Vor dem Arzt sind alle gleich
Gleichberechtigung in der Gesundheitsversorgung – Europa-Vorbild: Malta
Äff den Mann nach
Zur Gleichberechtigung in kleinsten Schritten – Glosse
Rassismus kostet Wohlstand
Teil 1: Leitartikel – Die Bundesrepublik braucht mehr statt weniger Zuwanderung
Schulenbremse
Teil 2: Leitartikel – Was die Krise des Bildungssystems mit Migration zu tun hat
Zum Schlafen und Essen verdammt
Teil 3: Leitartikel – Deutschlands restriktiver Umgang mit ausländischen Arbeitskräften schadet dem Land
Aus Alt mach Neu
Teil 1: Leitartikel – (Pop-)Kultur als Spiel mit Vergangenheit und Gegenwart
Nostalgie ist kein Zukunftskonzept
Teil 2: Leitartikel – Die Politik Ludwig Erhards taugt nicht, um gegenwärtige Krisen zu bewältigen
Glücklich erinnert
Teil 3: Leitartikel – Wir brauchen Erinnerungen, um gut zu leben und gut zusammenzuleben
Es sind bloß Spiele
Teil 1: Leitartikel – Videospiele können überwältigen. Wir sind ihnen aber nicht ausgeliefert.
Werben fürs Sterben
Teil 2: Leitartikel – Zum Deal zwischen Borussia Dortmund und Rheinmetall
Das Spiel mit der Metapher
Teil 3: Leitartikel – Was uns Brettspiele übers Leben verraten
Demokratischer Bettvorleger
Teil 1: Leitartikel – Warum das EU-Parlament kaum etwas zu sagen hat
Europäische Verheißung
Teil 2: Leitartikel – Auf der Suche nach Europa in Georgien
Paradigmenwechsel oder Papiertiger?
Teil 3: Leitartikel – Das EU-Lieferkettengesetz macht vieles gut. Zweifel bleiben.
Friede den Ozeanen
Teil 1: Leitartikel – Meeresschutz vor dem Durchbruch?
Vom Mythos zur Mülldeponie
Teil 2: Leitartikel – Wie der Mensch das Meer unterwarf