Alexander Serebrjakow hat alles im Griff – nur sein Leben nicht. Der abgehalfterte Schriftsteller (Daniel Stock) zieht sich aus Finanzgründen auf sein Gut zurück und beherrscht nun die gesamte Zeit die Bühne: Im Hintergrund hat er sich hinter einer gewaltigen Neon-Lamellenwand ein Schreibkabinett eingerichtet. Der Bühnenvordergrund ist dagegen übersät mit den Papierbergen seiner Entwürfe. Dazwischen Leben und Tod: ein bühnenbreiter Tisch, an dem gesoffen, auf dem getanzt und gelitten wird. Wirklich sympathisch ist Serebrjakow nicht. Zwar versucht er mit dem Schreiben die Familie über Wasser zu halten, die Anklänge an Tschechow sind offensichtlich, aber er nölt auch, ist selbstverliebt, trifft Entscheidungen nach Gutsherrenart.
Ohne das Stück zu verbiegen, lauscht Regisseur Sascha Hawemann Anton Tschechows „Onkel Wanja“ eine verblüffende Aktualität ab. Nicht anders als heute sind die Figuren einerseits erschöpft, andererseits geraten sie schnell in Hysterie, wirken ein wenig überdreht. Vor dem Hintergrund der im Stück erwähnten epidemischen Krankheiten ist die Parallele schlagend. Bühnenbildner Wolf Gutjahr verdeutlicht das mit einem klinischen Glaskasten mit medizinischen Apparaturen in der Bühnenmitte, in dem zunächst die Kinderfrau vor sich hinvegetiert, später aber das halbe Ensemble Probe liegt.
Der Arzt Astrow (Sören Wunderlich) reibt sich auf und säuft dann den Ekel weg. Er ist ein zynischer Idealist, der (durch das Stück verbürgt) das Klima durch Baumpflanzungen zu retten versucht. Nicht sonderlich sympathisch auch er, wie übrigens alle Figuren des Abends. Die Regie hat die Titelfigur weiblich besetzt: Sophie Basse als Wanja, die sich auf dem Gut des Schriftstellers seit Jahren verschleißt, sitzt die Wut am spürbarsten in den Knochen, sie explodiert immer wieder. Als Serebrjakow das Gut verkaufen will, zieht sie eine Pistole, schießt aber sechsmal daneben. So viel Komik muss sein. Ihr zur Seite steht Sonja (Lena Geyer), die Tochter Serebrjakows, die schuftet, immer gute Laune hat und unsterblich in Astrow verliebt ist – wie alle an diesem Abend letztlich in die Falschen verliebt sind. Selbst die bildschöne Jelena (Sandrine Zenner), eigentlich die Geliebte des Schriftstellers, klagt, sie sei eine „Nebenfigur“, obwohl sie von allen Männern umschwärmt wird. Später positioniert sie sich ungeniert direkt vor einem Scheinwerfer – im Wärmestrom der Eitelkeit. Sascha Hawemann zeichnet eine erschöpfte Gesellschaft, die über Restbestände an Idealismus verfügt, aber jeden Elan verloren hat. Ihm gelingt sogar, in der duckmäuserischen Nebenfigur Telegin (Christoph Gummert) einen widerlichen russischen Nationalismus aufleben zu lassen, der aber durch den Vorhang schnell zum Schweigen gebracht hat. Bei aller Melancholie, die vor allem durch den Musiker Xell evoziert wird, versagt sich die Inszenierung jede Gefühligkeit. Die Inszenierung hält Distanz zu diesem allzu menschlichen Haufen, der mit seinem ständigen Changieren zwischen Narzissmus, Hysterie, Wut und Sehnsucht uns doch bis ins Innerste ähnelt. Sehenswert.
Onkel Wanja | R: Sascha Hawemann | 2., 8., 18., 22.6. | Schauspielhaus Bonn | 0228 31 80 59
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