Gefühlt hängt über jedem zweiten deutschen Bett ein Traumfänger. Gefühlt jeder fünfte Deutsche denkt, der Traumfänger sei ein Kultobjekt der Aborigines. Und auch wenn bekannt sein dürfte, dass er zum kulturellen Erbe der Ureinwohner Nordamerikas zählt, wissen nur wenige, dass der Traumfänger dem Stamm der Ojibwe entspringt. Die meisten Traumfänger über deutschen Betten sind „Made in China“. Wenn sich eine dominante Gesellschaft auf unangemessene Art „Gewohnheiten, Bräuche, Ideen eines Volkes“ aneignet, dann spricht man von kultureller Aneignung, sagt das Oxford English Dictionary. „Unangemessen“, erläutert das Cambridge Dictionary, meint die Aneignung kultureller Vorbilder, ohne darzulegen, dass man die Kultur versteht und respektiert. Wann also ist ein Traumfänger überm Bett unangemessen?
Stereotypisierung oder Sensibilisierung?
Die westliche Zivilisation befindet sich am Beginn einer Läuterung. Sie muss sich selbstkritisch einem latenten Rassismus stellen, den sie über Jahrhunderte kolonialer Prägung hinweg tief verinnerlicht hat. Rassistisches Handeln und Vorurteile sind keine verjährten Mankos unserer Ahnen. Sie leben. In jedem von uns. Die These ist radikal, der Diskurs darüber erhitzt die Gemüter. Viele Bürger reagieren mit Abwehr und Trotz, ohne sich auch nur im Ansatz mit der These auseinanderzusetzen. Andere zeigen Verständnis und wettern engagiert gegen Blackfacing – ohne wirklich zu verstehen, warum. Verwirrung, Verhärtung, Verkrampfung. Wenn ein Kind ein Indianerkostüm trägt, stereotypisiert es dann die Identität der indigenen Völker Nordamerikas? Oder sensibilisiert das Kostüm womöglich das Kind und seinesgleichen für die fremde Kultur und animiert es dazu, vertiefend zu fragen: Was ist was?
Kulturelle Aneignung in der Kunst
Die Sache ist komplex. Und sie wird komplexer, wenn sich Kunst, Mode und andere kreative Prozesse von den kulturellen Bräuchen fremder Völker inspirieren lassen und dafür kritisiert werden. Von der verkitschten Panflötenkonserve bis zu Dreadlocks, vom verwestlichten Yoga bis zum Traumfänger aus China. Mitunter erschließt sich die Kritik rasch. Was aber ist mit Elvis Presley, dessen ertragreicher Ruhm sich aus dem Blues nährte, der seine Ursprünge unter anderem in den Worksongs der Sklaven findet. Ein aus Unterdrückung entsprungener Musikstil, den sich Weiße aneignen und sich damit noch über Jahrhunderte hinweg bereichern. Wie gentlemanlike ist es, wenn sich ein weißer Deutscher namens Tilmann Otto das kulturelle Erbe Jamaicas aneignet, Reggae-Lieder performt und damit als „Gentleman“ berühmt und womöglich reicher wird als Bob Marleys Erben?
Ein respektvoller Umgang
Kunst fußt auf Inspiration. Inspiration ist Aneignung. Kunst ist ein Element der Kultur, und im Zeitalter der Globalisierung ist gegenseitige kulturelle Stimulierung unumgänglich. Interkulturelle Inspiration ist der Kultur zutiefst eigen. Anstößig wird sie, wenn sie ihre Quellen nicht respektiert, sie ausbeutet. Wenn sie „unangemessen“ mit ihnen umgeht. Es geht nicht um das „Ob“, es geht um das „Wie“. Kunst und Kultur müssen sich frei entfalten, einander stimulieren dürfen. Das Problem liegt nicht im freiheitlichen Selbstverständnis von Kunst und Kultur, sondern im großen Ganzen: vom gesellschaftspolitischen Überbau bis hin zur Eigenverantwortung. Erst der reflektierte Umgang mit dem angeeigneten Objekt, die offene Auseinandersetzung mit unserem kolonialen Erbe kann ein Kostüm gebührlich machen, einen Elvis glaubwürdig, einen Gentleman gentlemanlike, einen Traumfänger angemessen.
KOLONIALWAREN - Aktiv im Thema
africavenir.org/de | Die in Kamerun ansässige NGO AfricAvenir unterhält u.a. ein Büro in Berlin. Der Onlineauftritt informiert auch über ihre Aktivitäten zu geraubter Kunst.
kulturrat.de | Dossier des Deutschen Kulturrates über „Sammlungsgut aus kolonialen Kontexten“
kulturgutverluste.de | Das Deutsche Zentrum Kulturgutverluste fördert die Suche nach sog. NS-Raubgut.
Fragen der Zeit: Wie wollen wir leben?
Schreiben Sie uns unter meinung@choices.de
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
Vom Umgang mit Kolonialkunst
Auftakt der Ringvorlesung „Res(t)ituieren“ im Kubus – Kunst 10/22
Kein Platz für „Herrenmenschen“
Initiative von Bündnis 90/Die Grünen – Spezial 05/22
Chance vertan
Intro – Kolonialwaren
Blutiges koloniales Erbe
In der Klemme: Das Humboldt-Forum zwischen Geschichtsrevisionismus und Restitution – Teil 1: Leitartikel
„Mit den Nachfahren der Kolonisierten zusammenarbeiten“
Museumsdirektorin Nanette Snoep über Raubkunst und die Aufgaben der Museen – Teil 1: Interview
Kunstraub in der NS-Zeit
Forschungsprojekt am Museum für Angewandte Kunst Köln – Teil 1: Lokale Initiativen
Sind Namen Schall und Rauch?
Umstrittene Denkmalkultur im öffentlichen Raum – Teil 2: Leitartikel
„Naiv zu glauben, dass Denkmäler Geschichte abbilden“
Historiker Jonas Anderson über den Umgang mit Deutschlands Kolonialvergangenheit – Teil 2: Interview
Erinnerungskultur vor Ort
Stadtführung „colonialtracks“ über Essens Kolonialgeschichte – Teil 2: Lokale Initiativen
„Kultur bedeutet immer, sich Dinge anzueignen“
Philosophin Ursula Renz über kulturelle Aneignung – Teil 3: Interview
Neues Berufsbild für Flüchtlinge
Die Wuppertaler SprInt eG fördert kultursensibles Dolmetschen – Teil 3: Lokale Initiativen
Das Erbe König Leopolds
Rückgabe kolonialer Raubkunst – Europa-Vorbild: Belgien
Rassismus kostet Wohlstand
Teil 1: Leitartikel – Die Bundesrepublik braucht mehr statt weniger Zuwanderung
Schulenbremse
Teil 2: Leitartikel – Was die Krise des Bildungssystems mit Migration zu tun hat
Zum Schlafen und Essen verdammt
Teil 3: Leitartikel – Deutschlands restriktiver Umgang mit ausländischen Arbeitskräften schadet dem Land
Aus Alt mach Neu
Teil 1: Leitartikel – (Pop-)Kultur als Spiel mit Vergangenheit und Gegenwart
Nostalgie ist kein Zukunftskonzept
Teil 2: Leitartikel – Die Politik Ludwig Erhards taugt nicht, um gegenwärtige Krisen zu bewältigen
Glücklich erinnert
Teil 3: Leitartikel – Wir brauchen Erinnerungen, um gut zu leben und gut zusammenzuleben
Es sind bloß Spiele
Teil 1: Leitartikel – Videospiele können überwältigen. Wir sind ihnen aber nicht ausgeliefert.
Werben fürs Sterben
Teil 2: Leitartikel – Zum Deal zwischen Borussia Dortmund und Rheinmetall
Das Spiel mit der Metapher
Teil 3: Leitartikel – Was uns Brettspiele übers Leben verraten
Demokratischer Bettvorleger
Teil 1: Leitartikel – Warum das EU-Parlament kaum etwas zu sagen hat
Europäische Verheißung
Teil 2: Leitartikel – Auf der Suche nach Europa in Georgien
Paradigmenwechsel oder Papiertiger?
Teil 3: Leitartikel – Das EU-Lieferkettengesetz macht vieles gut. Zweifel bleiben.
Friede den Ozeanen
Teil 1: Leitartikel – Meeresschutz vor dem Durchbruch?