Daniel Kuschewski inszeniert Shumona Sinhas „Erschlagt die Armen!“ – Premiere 11/16
Dass Kafkas Welten durchaus einen realen Anspruch besitzen können, musste die französisch-indische Autorin Shumona Sinha erfahren. Sie arbeitete als Dolmetscherin bei einer Asylbehörde. Als sie 2011 ihren Roman „Erschlagt die Armen!“ in Paris veröffentlichte, verlor sie ihren Job: In ihrem Roman beschrieb sie die Geschichte einer nach Frankreich eingewanderten Dolmetscherin, die der Arbeit in einer Asylbehörde derart zusetzt, dass sie in einer Metro einem Migranten eine Flasche über den Kopf schlägt. Sie wird verhaftet und einem Verhör durch einen Beamten unterzogen, der den Namen K. trägt, wie der Angeklagte in Kafkas „Der Prozess“. Sinhas Roman ist ein langer Monolog der Protagonistin über die „Lügenfabrik“ des Asylsystems in Europa, über die Reproduktion patriarchaler Verhältnisse und vor allem eine verstörende Selbstvergewisserung über die eigene hybride Identität. Sinha und ihre Übersetzerin Lena Müller sind mit dem Internationalen Literaturpreis 2016 ausgezeichnet worden. Am Freien Werkstatt Theater bringt Daniel Kuschewski eine Dramatisierung auf die Bühne.
choices: Herr Kuschewski, die Dolmetscherin schlägt einem Migranten, der sie in der Metro bedrängt, eine Flasche über den Kopf. Wie kommt es zu dieser Aggression? Daniel Kuschewski: Genau das versucht die Protagonistin im Roman und bei uns auf der Bühne herauszufinden. Im Buch heißt es: „Menschenrechte enthalten nicht das Recht, dem Elend zu entkommen. Es braucht einen edleren Grund, einen, der politisches Asyl rechtfertigt“, heißt es im Roman. Menschenhändler, heißt es an anderer Stelle, verkaufen neben Pässen und Routen auch Fluchtgeschichten mit. Um in diesem Asylsystem eine Chance zu haben, muss man eine Geschichte erfinden. So beschreibt es zumindest die Erzählerin. Aus wirtschaftlichen Gründen wird man kein Asyl erhalten. Es geht in dem Roman um Wahrheit und Lüge. Die Dolmetscherin und die BeamtInnen haben diese Geschichten schon dutzendfach gehört und müssen immer wieder entscheiden, was sie glauben können und was nicht. Sie wollen die Wahrheit wissen. Aber was passiert, wenn sie sie bekommen? In einer Szene wird ein Mann in die Enge getrieben, bis er sich zur Wahrheit durchringt: Er habe als Lastwagenfahrer jemanden bei einem Unfall tödlich verletzt und sei geflohen, um der Verfolgung durch die Justiz zu entgehen. In dem Moment wird er fallengelassen wie eine heiße Kartoffel. Die BeamtInnen müssen immer wieder bei null anfangen und im Gespräch die Wahrheit herausfinden. Der Widerspruch besteht darin, die Lügen zu provozieren und sie später wieder zu entlarven. Und die Dolmetscherin reibt sich in diesem Verfahren total auf.
In welchen Zwiespalt bringt das die Dolmetscherin?
Daniel Kuschewski
Foto: Thomas Morsch
Daniel Kuschewski (*1977) wuchs in Köln auf, absolvierte seine Schauspielausbildung an der Kölner Schauspielschule des Theaters der Keller und spielte an diversen Theatern. Anschließend studierte er Regie an der Zürcher Hochschule der Künste, wo er das Studium 2008 mit seiner Diplominszenierung „Die Leiden des jungen Werther“ abschloss, die im Anschluss in das Repertoire des Jungen Schauspielhauses Zürich übernommen wurde, wo er in der Folge immer wieder inszenierte.
Schon in der Funktion der Übersetzerin liegt ein Zwiespalt. Sie ist bei der französischen Asylbehörde angestellt und übersetzt die Aussagen von Antragstellern, die aus dem gleichen Land kommen wie sie selbst. Wie gehe ich damit um? Beeinflusse ich die Befragung zugunsten der Antragsteller? Schlage ich mich auf die Seite der BeamtInnen? Oder versuche ich, beiden Seiten gerecht zu werden? Die Dolmetscherin sagt von sich, sie sei der Bindestrich zwischen beiden Parteien. Am Anfang ist sie auf der Seite der französischen Behörden, vor allem der Beamtin Lucia; später allerdings wird die Fassade, die sie sich aufgebaut hat, immer bröseliger.
Was ist das für eine Fassade? Sie spricht einmal von Frankreich als einem „Glücksland“. Sie möchte in diesem neuen Land aufgehen und ihre Herkunft und die Erinnerung daran ausradieren. Das hat auch lange funktioniert. Sie hat unbegrenzten Aufenthaltsstatus, hatte einen Beruf und eine Beziehung. Das ist ihr allerdings beides vor ihrer Anstellung als Dolmetscherin weggebrochen. Jetzt kommt sie an einen Ort, der sie an ihre Vergangenheit erinnert und plötzlich bricht diese scheinbar heile Welt, die sich aufgebaut hat, komplett zusammen. „Und plötzlich stand ich wieder vor verschlossenen Türen“, sagt sie im Buch.
Es sind vor allem männliche Migranten, über die sie sich sehr kritisch äußert. Die Ablehnung der Männer aus ihrem Kulturkreis ist immens groß. Sie wird sie von den Antragstellern beschuldigt, nicht das zu übersetzen, was sie gesagt hätten oder es nicht richtig zu übersetzen. Gleichzeitig trifft sie sich nach Dienstschluss mit Männern, weißen Männern, zum schnellen Sex. Auch darin steckt die Lossagung von ihrer Vergangenheit und ihrer Herkunft. Durch die Antragsteller wird sie aber allmählich an ihre Herkunft erinnert. Sie schämt sich vor der Beamtin für die Männer ihres Herkunftslandes und sie schämt sich für das in den Männern, was sie selbst ist.
Vor dem Hintergrund der Kölner Silvesternacht erhalten diese Aussagen eine entsprechende Schlagseite, auch wenn das Buch bereits 2011 erschienen ist. Das Buch kann man nicht ganz unkritisch sehen. Es sind größtenteils männliche Antragssteller, die in dem Buch geschildert werden. Die Autorin Shumona Sinha hat in Interviews gesagt, dass sie mit den Männern sehr hart ins Gericht geht, um sie aufzurütteln. Sie hat selbst als Dolmetscherin in einer Asylbehörde gearbeitet und fand es unerträglich, wie würdelos diese Männer behandelt wurden. Aber auch, wie würdelos sie sich Frankreich vor die Füße geworfen haben. Darauf spielt auch der Titel des Buches an, ein Zitat aus einem Gedicht von Baudelaire, in dem solange auf einen Bettler eingeprügelt wird, bis er aufsteht und zurückschlägt.
Die Autorin Shumona Sinha hat nach Erscheinen von „Erschlagt die Armen!“ ihren Job bei der Asylbehörde verloren. Welche Folgen hat dieses Wissen für die Lektüre des Buches? Das Buch hat eine gewisse Reputation erlangt und die Geschichte der Kündigung der Autorin gehört dazu. Dass das im Klappentext erwähnt wird, setzt bei mir die Vermutung frei, die Verhöre könnten tatsächlich so stattgefunden haben. Ich kann das nicht mehr vollständig als Fiktion lesen. Sind die Gespräche dokumentarische Abschriften oder ist das alles durch die Brille der Protagonistin betrachtet? Ich glaube, dass man mit letzterem weiter kommt.
Wie gehen sie auf der Bühne mit dem Zwiespalt zwischen Fiktion und Realität um? Ich arbeite mit drei Schauspielern, habe mich allerdings für eine durchgehende Hauptfigur, gespielt von Nina Karimi, entschieden. Das Geschehen spielt im Kopf der Erzählerin. Der Text, das sind Stimmen in ihrem Kopf, die jede Erscheinung annehmen, unterschiedlichste Erinnerungen in ihr wachrufen können, die sie aber auch herbeirufen kann. Derzeit experimentieren wir mit Lautsprechern auf der Bühne. Wir arbeiten mit Tönen und Stimmen, mit Klängen und Überlagerungen. Es sind unfassbar viele Stimmen in ihrem Kopf und der Roman gibt nur einen Bruchteil davon wider. Diese Überforderung versuchen wir zusätzlich auf der Tonebene widerzuspiegeln.
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