Der Saal ist voll, alle Plätze sind weg, alle Übersetzungsgeräte ausgeteilt – im Foyer steht Amnesty International, das PEN-Zentrum Deutschland ist beteiligt und es gibt eine Reihe von Informationstafeln zu zensierten Büchern in der Türkei. Um den Diskussionsabend „Die Türkei. Von der Literatur zur Anklage“ zu stemmen, haben sich viele zusammengeschlossen, von der Volkshochschule über das Literaturhaus und die Integrationsagentur der AWO Mittelrhein zum Kulturforum TürkeiDeutschland.
Die Schriftsteller Aslı Erdoğan und Doğan Akhanlı rätseln eigentlich noch immer, warum genau die türkische Regierung sie derart verfolgt. Asli Erdogan jedenfalls fühlt sich da an Konzentrationslager erinnert: „Wenn man Brot stiehlt, wird man zum Tode verurteilt. Betreibt man Sabotage, wird man auch zum Tode verurteilt.“ Sie hatte ab 2011 für eine kurdisch-türkische Zeitung geschrieben und war lediglich Teil eines symbolischen Redaktionsrates ohne rechtliche Verantwortlichkeit. Auch die Verfolgung ihres Kollegen Akhanlı bleibe mysteriös, da niemand Einblick habe: „Wir werden es nie wissen.“
Akhanlı selbst findet sich auch nicht so gefährlich und glaubt, die Regierung rechne ihn einfach der Gezi-Bewegung zu: „Es war nicht so, dass meine Bücher die Türkei irgendwie in die Bredouille bringen könnten.“ Trotzdem funktioniere die Einschüchterung. „Die Menschen werden immer stiller, immer leiser.“
Allerdings hätten die Verhaftungen ihn und auch die Solidaritätsbewegung gestärkt. „Die Türkei hat viel verloren mit den Verhaftungen.“ Die Weltöffentlichkeit habe die Situation nun „viel besser verstanden“, weil sie deutlich sichtbar geworden sei. „Ich bin wirklich sehr stolz, ein Teil dieser Familie zu sein“, sagt er in Hinblick auf die offenbare „Volksbewegung“, die hinter dem Putsch stünde.
Dass sich die beiden Autoren nun einmal begegneten, war überfällig. „Aslı Erdoğan war immer ein Teil von mir. Im Schauspiel Köln habe ich immer ihren Brief vorgelesen“, sagt Akhanlı mit Bezug auf das Stück „Istanbul“ (nächste Vorstellung: 15.11.) und Aslı Erdoğans bekannten Hilferuf aus dem Gefängnis, in dem es unter anderem hieß: „Europa unterschätzt die Gefahren des totalen Verlusts der Demokratie in der Türkei.“
Im August 2016 waren bewaffnete Sicherheitskräfte an ihrer Wohnung in Istanbul aufgetaucht. Auf der Polizeiwache sei eine „Folter-Atmosphäre erzeugt“, ihre beiden männlichen Kollegen misshandelt, aber schließlich freigelassen worden, berichtet sie. Ihr selbst wurde „Separatismus“ vorgeworfen. Erst nach vier Monaten wurde sie schwer krank aus der Untersuchungshaft entlassen, eine Ausreisesperre wurde aber erst im September 2017 aufgehoben. Vergessen wird sie diese Erfahrungen nie, und angesichts der Lage in ihrem Land sei ein Teil von ihr noch immer im Gefängnis. „Wenn jemand eingesperrt wird, gehe ich mit hinein. Insofern rieche ich das Gefängnis weiter.“ Auch Freiheit sei in so einer Zeit nicht einfach. „Einerseits ist sie alles, andererseits ist sie nichts.“
Sie sei nun „vielen Menschen für mein Leben dankbar. Ich weiß manchmal nicht, wie ich die Dankbarkeit in Worte fassen soll.“ Es sei fast eine Art Schuldgefühl.
Doğan Akhanlı, der auch schon türkische Gefängnisse kennenlernen musste, war im August in Spanien per Interpol auf Betreiben der Türkei festgenommen worden. Doch die Auslieferung an die Türkei konnte verhindert werden. Denn, so erklärt Akhanlıs Anwalt Ilias Uyar, Interpol Artikel 3 der Statuten verbiete eigentlich politisch motivierte Festnahmen. „Es ist schön, wenn es da so steht, aber die Praxis zeigt, dass es nicht ausreichend angewendet wird.“
Dass die Betroffenen nicht über eine „Red Notice“ bei Interpol informiert werden, findet Investigativjournalist Günter Wallraff bedenklich und hält es für eine Pflicht des Innenministers. Der aber würde sich „wegducken“, wenn man ihn zur Rede stelle. „Er müsste eigentlich aufgrund seines Amtes zumindest die deutschen Staatsbürger warnen über diese Listen, wo inzwischen Tausende von der Türkei aus gejagt werden.“
Für die Solidarität aus Deutschland und Köln zeigte sich Akhanlı zutiefst dankbar. „Früher war Solidarität für mich so ein Slogan, ich verstand sie nicht genau.“ Doch die Solidaritätsbewegung in Köln im Jahr 2010, als er bei der Einreise in die Türkei festgenommen wurde, habe ihn „reell gerettet, sie hat mit wortwörtlich gerettet. Ich habe Solidarität erfahren und verstanden. Es war eine sehr persönliche Erfahrung.“
Nach der Festnahme in Spanien vor knapp drei Monaten habe er „als letzter verstanden, wie reell die Situation war“, nämlich als sein Anwalt gekommen und auch Köln „wieder dabei“ gewesen sei: „Der Schock, der Deutschland getroffen hat, den habe ich dann auch erlebt. Dann ist mein ganzer Körper und meine Seele auferstanden und hat rebelliert.“ Er wollte dann „mit dem Schreiben einen Widerstand zeigen“ und vor der Entlassung ein Buch fertigstellen. „Köln hat mich zwei Mal gerettet. Die Magie der Solidarität in dieser Stadt funktioniert.“
Bürgermeisterin Elfi Scho-Antwerpes sagte zuvor in ihrer vom Herzen kommenden Eröffnungsrede: „Wir sind sehr froh, dass du wieder hier bist.“ Sie wolle sich aber noch auf einen Tee mit ihm treffen, um sicherzustellen, dass es ihm wirklich schon wieder „gut“ gehe, wie er behaupte.
Akhanlı und Erdoğan, aber auch Wallraff, Uyar, Scho-Antwerpes und Carlos Collado Seidel vom deutschen PEN-Zentrum erinnerten in ihren Wortbeiträgen an die politisch Verfolgten und die derzeit inhaftierten Oppositionellen in der Türkei, für die auch Spenden gesammelt wurden. Uyar kritisierte, dass bei Sigmar Gabriels Treffen mit dem türkischen Außenminister Çavuşoğlu am 4.11. zu harmonische Bilder produziert worden seien. „Da muss man eine ganz andere Gangart und auch eine ganz andere Bildsprache an den Tag legen.“ Immerhin sei der deutsch-türkische Journalist Denis Yücel seit über 260 Tagen in Isolationshaft.
Laut dem türkischen Justizminister Gül sind 50.000 Oppositionelle in Untersuchungshaft, Aslı Erdoğan geht aber von einer ebenso hohen Dunkelziffer aus: „Man weiß nicht, wann jemand verhaftet oder entlassen wird.“ Der Putschversuch liefere dem autokratischen Präsidenten mit seinen „Stimmungswechseln“ den Vorwand, Oppositionellen die „Stimmbänder durchzutrennen“. Carlos Collado Seidel sagt: „Für Schriftsteller und Journalisten ist die Türkei das größte Gefängnis der Welt.“ Aslı Erdoğan verglich die Türkei unter Recep Erdoğan mit einem „Mafiastaat“, in dem sich leider „überall in der Gesellschaft“ der Despotismus breitmache. In der Armenier- und Kurdenfrage setze sich überall Erdoğans Sprache durch. „Der Nationalismus [in der Bevölkerung] ist ein Ass im Ärmel der Regierung.“ Sie verliere zwar an Macht, aber die Gewalt nehme zu. „Ich denke, dass in nächster Zeit noch viele leiden werden.“
Nach der Wahl von 2015 habe es auch eine Art von „Kristallnacht“ gegeben, in der kurdische Geschäfte und Zentren geplündert und Menschen in Keller verschleppt worden seien. „Wieso hat niemand in Europa etwas gesagt?“, fragt Erdoğan.
Während Akhanlı in Frauen, die heute mehr Rechte hätten, eine politische Kraft und wichtigen Teil der Opposition sieht, wies Erdoğan darauf hin, dass das Abtreibungsrecht wieder zurückgenommen worden sei. „Nur Frauen, die Geld haben, können abtreiben“ – in privaten Kliniken. Insgesamt sei es für Frauen, die auch in der Justiz benachteiligt würden, „noch schwieriger, gegen Erdogan aufzustehen“.
Günter Wallraff war nun zweimal in der Türkei und dabei selbst etwas überrascht, dass er ein- und vor allem auch wieder ausreisen konnte: Da gebe es für deutsche Staatsbürger anscheinend einen „Deal“. Er habe dort unter anderem die inhaftierten oder in Angst lebenden Redakteure der Tageszeitung Cumhuriyet besucht.
„Es herrscht Willkür. Es ist ein Unrechtsregime durch und durch“, berichtet er. Von Cumhuriyet und einigen kleinen Nischenzeitungen abgesehen gebe es nur noch eine „gleichgeschaltete Presse“ mit „Hetzjournalismus“: „Es werden immer wieder einzelne ins Visier genommen.“ Zu diesem Zweck werde nach wie vor eine Zugehörigkeit der Person zur Gülen-Bewegung fabriziert. „Die Desinformation der Bevölkerung ist so groß, dass das auch viele glauben!“ Umso mehr sei er erstaunt gewesen, wie viele doch noch öffentlich ihre Meinung sagen, „in vollem Bewusstsein, dass sie jederzeit neu inhaftiert werden können“. Daher würde er sich auch von den Deutschen etwas mehr Mut und weniger „Angepasstheit“ wünschen.
Speziell sprach er davon, dass man als Deutscher einreisen und – wie er – bei den Gerichtsverfahren gegen Oppositionelle Präsenz zeigen könne. Der Prozess gegen die weiterhin inhaftierten Cumhuriyet-Redakteure, dem er im Oktober beiwohnte, sei eine Farce gewesen. „Das hatte nichts mehr mit Justiz zu tun. Man spürte sehr schnell, dass die Entscheidung schon vorgegeben war. Da wurde eine Show abgezogen. Der Richter saß da, bewegungslos wie ein Ölgötze und zeigte keine Reaktion.“ Mit „großartigen Plädoyers“ der Verteidigung seien „Perlen vor die Säue geschmissen“ worden. Eine Anklageschrift fehlte: „Sie haben ja nichts!“ Ähnlich berichtete Wallraff kurz von anderen Prozessen. „Wenn es vorkommt, dass ein Richter – das gab’s ja auch vor Kurzem – einen Angeklagten freigesprochen hat, dann wurde dieser Richter seines Amtes enthoben.“
Doğan Akhanlı hegt im Gegensatz zu seiner Kollegin die Hoffnung, dass es mit Präsident Erdogan zu Ende gehe. Dies werfe aber die Frage auf: „Wird sein Ende zu noch schlimmeren Entwicklungen führen?“ Es sei jetzt wichtig, darüber nachzudenken, was für eine Art von Gesellschaft die Türken dann wollen. Es sei keineswegs auszuschließen, dass das Land einmal das Schicksal von Syrien teilen werde, wenn man nicht einen Weg finde, zusammenzuarbeiten.
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