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Svetlana Fourer
Foto: Matthias Bernhold

„Uns verbinden die Märchen“

07. Oktober 2021

Svetlana Fourer über ihr Festival „Neues Europa“ – Interview 10/21

Das internationale Jugendtheaterfestival „Neues Europa“ findet diesen Oktober zum vierten Mal statt. Vom 21. bis zum 24. Oktober sind junge Menschen eingeladen, sich in Workshops mit den Schwerpunkten Identität, Widerstand und Körper zu beschäftigen. Initiiert wurde das Festival von Svetlana Fourer, die außerdem dokumentarische Performances mit Jugendlichen entwickelt und mit einem nach ihr benannten Ensemble außerdem klassische und zeitgenössische Stücke inszeniert. Das Junge Theater Köln bildet seit 2017 das Dach, unter dem sich die verschiedenen Arbeitsformen der Regisseurin, Autorin und Theaterpädagogin sammeln. Svetlana Fourer spricht wie ein Wasserfall, jede meiner Fragen führt zu einer sprudelnden Reihe von Antworten. Um die Zusammenhänge zwischen ihren vielen verschiedenen Projekten zu verdeutlichen, holt sie einen Spiralblock aus ihrer Tasche, auf den sie einen Zeitstrahl zeichnet. Das übergreifende Thema des diesjährigen Festivals „Neues Europa“ umkreist sie mehrfach: Revolte!

choices: Frau Fourer, das Jugendtheaterfestival „Neues Europa“ veranstalten Sie seit 2013. Wie kam es dazu, und was meint der Begriff „Europa“ hier?

Svetlana Fourer: Seit 2006 arbeite ich mit Kindern und Jugendlichen. Mein erstes Stück mit jungen Menschen war „Zirkus Schardam“ von Daniil Charms. Zum damaligen Zeitpunkt war es seit ganzen 100 Jahren nicht mehr aufgeführt worden und wir tourten damit bis nach St. Petersburg. Drei Jahre später hatten Bekannte und ich die Idee, ein Jugendtheaterfestival zu veranstalten, das eine Begegnung schafft zwischen den alten Europäischen Ländern und den 2004 neu dazugekommenen. Uns verbindet nicht unbedingt Sprache und Mentalität, aber die Kultur, oder besser: die Märchen. Jeder kann die menschlichen Essenzen darin verstehen: Liebe, Vertrauen, Hilfe. Das Warme, das du bekommst, damit du dein Leben überstehen kannst. Und das ist „Neues Europa“. Eine Öffnung, die es innerhalb eines einzelnen Nationalstaats nicht geben kann. Der Versuch, neue Wege der Begegnung zu finden. Theater ist für mich dabei wichtig, weil es ein Sprachrohr oder ein Forum sein kann, und in Krisenzeiten auch ein Mittel, auf die Barrikaden zu gehen, wenn es sein muss.

„Es ist an der Zeit, dass die Gesellschaft sich der Jugend anpasst“

Um was geht es bei dem diesjährigen Thema „Revolte“?

Nach den Attentaten von Halle und Hanau dachte ich, ich kann es sein lassen, all meine Arbeit. Nichts als ein Tropfen auf den heißen Stein. Dann entschied ich mich für das Thema „Revolte“. Ich will, dass die Leute auf die Barrikaden gehen und schreien. Das ganze Festivalteam ist der Meinung, dass es jetzt dringend notwendig ist, das sich Menschen zusammen tun und ihre Haltung deutlich äußern. So etwas wie Halle und Hanau muss unmöglich werden. Die Kundgebungen und Demonstrationen reichen nicht, es muss politisch etwas getan werden. Jugendliche müssen persönlich angesprochen werden und begreifen, dass man zum Beispiel auf eine antisemitische Äußerung auch in banalen Alltagssituationen sofort reagieren muss. Heute gibt es so viele junge Menschen, die Ihre Identität neu und fluide definieren. Ich finde, es ist an der Zeit, dass die Gesellschaft sich dieser Jugend anpasst und nicht umgekehrt, nur dann gibt es eine Chance, dass es eine offene und freie demokratische Gesellschaft bleibt. Dieses Streben nach Zugehörigkeit, ohne den Zwang, sich an eine vermeintliche Leitkultur anpassen, gilt für alle, für Juden wie für Muslime. Und davor fürchten sich bestimmte eingesessene Deutsche, weil sie nicht verstehen, dass sie dadurch nichts verlieren. Diese Ängste werden gerade sehr aktiv geschürt, darum sind die kommenden Wahlen so wichtig.

Was war ihr Gedanke dahinter, das Festival Neues Europa und das Svetlana Fourer Ensemble als Junges Theater Köln zusammenzubringen?

Das Ensemble gibt es seit 2003 oder 2006, über das genaue Gründungsdatum streiten sich die Historiker. Irgendwann brauchte ich etwas, wo sich noch mehr Menschen zusammentun können, die die gleichen Interessen und Wünsche haben wie ich. Die gesamtgesellschaftlich denken, sich positionieren wollen. Ein wichtiger Aspekt des Jungen Theaters Köln ist auch das dokumentarische Theater. Ich arbeite seit 2014 mit dem Bundesverband Information & Beratung für NS-Verfolgte und bringe Zeitzeugen und Jugendliche zusammen. Wirklich dokumentarisches Theater mache ich seit 2016, und die Entdeckung dieser Arbeitsform war einschneidend für mich. Sie erlaubt, Dinge ganz direkt zu fragen, zum Beispiel dich, jetzt: Wie fühlst du dich in deiner weißen Haut? Mit deinen blauen Augen? In einem geschützten Raum können diese Fragen gestellt werden, ohne ein Angriff zu sein. Man kann anfangen, zu sprechen. Dokumentarisches Theater bringt diese Gespräche in eine künstlerische Form, es verwandelt sie in etwas, das unter den richtigen Umständen viele Menschen bewegen kann. Und man ist immer im Hier und Jetzt, beschäftigt sich immer direkt mit brennenden Themen. Das Junge Theater Köln steht für die Verbindung zwischen dem Theater mit Jugendlichen, professionellem Theater und dokumentarischen Projekten.

„Ich bin russische Jüdin, die in Deutschland lebt. Das ist eine explosive Mischung“

Durch all diese Arbeitsformen zieht sich die Verhandlung von Kriegserlebnissen und die Frage nach der eigenen Identität. Was brachte Sie persönlich zu diesen Schwerpunkten?

Frag mich, wer ich bin.

Das war die implizite Version dieser Frage.

Ich bin russische Jüdin, die in Deutschland lebt. Das ist eine explosive Mischung für sich, ich habe lange gebraucht, um herauszufinden, warum. Für mein Projekt „Das Kind und der Krieg“, das sich mit dem Ukraine-Krieg und dem Zweiten Weltkrieg beschäftigte, sammelte ich viele Geschichten. Ich bin bis nach Kiew gefahren, um mit geflüchteten Kindern zu sprechen. Diese Reise hat mich zum ersten Mal dazu gebracht, die Geschichte meiner Familie väterlicherseits zu erforschen und darüber zu sprechen. Das war schwer für mich, aber ich bin froh, dass ich da durchgegangen bin, weil jetzt weiß, wer ich bin und warum ich auf manche Themen und Aussagen so reagiere, wie ich es tue. Mein Vater war Überlebender und ich bin, was man in Israel „Second Generation“ nennt. Die Kinder der Kinder. Bis ich zum ersten Mal nach Israel kam, war mir nicht klar, dass es diese Gemeinsamkeit gibt. Ich wusste immer, dass es da etwas ganz Schlimmes passiert war, aber mein Vater hat sein Leben lang darüber nicht gesprochen. Ich habe mich erst im Rahmen dieses Projekts getraut nachzufragen, die Geschichte meiner Familie habe ich über meine Tante in Israel erfahren. Bei uns in der Familie wurde darüber nie gesprochen. Nie.

„Es wird nie einen ,Schlussstrich‘ geben“

Manche Deutsche trauen sich bis heute nicht, darüber zu sprechen. Ich möchte diesen Leuten sagen: Ihr müsst wissen, was eure Familie getan hat, ihr müsst mit euren Kindern und Enkelkindern darüber sprechen, denn es ist eure Geschichte. Und ja, sie tut weh, aber nur durch die Auseinandersetzung kann verhindert werden, dass sich so etwas wiederholt, und nur so können die Mechanismen verstanden werden, die dazu führten, dass so etwas möglich war. Ich beschäftige mich in solchen Projekten mit meiner, aber auch eurer Geschichte. Es wird nie einen „Schlussstrich“ geben. Es muss sich mit dieser Geschichte auseinandergesetzte werden. Bis es eine gesellschaftliche Öffnung gibt, bis in der Verfassung festgehalten wird, dass Deutschland ein Einwanderungsland ist und dass deutsch ist, wer hier lebt und arbeitet. Bis sich hier alle wohl und sicher fühlen können.

Am Ende unseres Gesprächs muss ich fragen, was „Ponemajesch“ bedeutet, eine russische Wendung, die Svetlana Fourer alle paar Sätze einwirft (und die ich natürlich völlig falsch ausspreche). Sie antwortet: Ich weiß, ich sage das ständig. Es bedeutet: „Verstehst du mich“?

Neues Europa 2021 | 21. - 24.10., div. Uhrzeiten | Forum Volkshochschule im Museum am Neumarkt | www.junges-theater-koeln.de 

Interview: Mia Hofner

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