Wenn es möglich ist, im Nexus die Enterprise-D in einer Weihnachtskugel zu verstecken (Star Trek: Treffen der Generationen, USA 1994), dann muss es auch möglich ein ganzes Sanatorium in eine Schneekugel zu montieren. Das schafft auch Regisseur Simon Solberg in Bonn in Friedrich Dürrenmatts „Komödie“ „Die Physiker“. Und in dieser tatsächlich ab und an Theaterschnee schneienden Kugel stecken die Protagonisten fest. Zu sehen ist die natürlich nicht, nur wenn Sanatoriumschefin Sophie Basse die kleine Ausgabe schüttelt – und das tut sie immer, wenn ihr etwas nicht gefällt – dann fallen die weißen Flocken auf die Bühne, auf das Bassin, auf das große Terrarium, die verlotterten Gestalten. Schnell schiebt Fräulein Doktor Mathilde von Zahnd noch ein forsches Fragesätzchen, „Muss ich mir Sorgen machen?“, hinterher und schon läuft die Anarchie in der Krankenanstalt wieder, ein Screen zeigt dazu Drohnenkrieg im Irak, G20-Proteste zur Panflöte und ein Alpenpanorama im Hintergrund. Ganz schön abgefahren, diese Schneekugel, und so wird die Abiturientenklasse clever im Interpretationsdschungel in die Irre geführt – und das, nachdem sich Dramaturg Jens Groß beim Intro mit Schrödingers Katze bereits vergeblich alle Mühe gegeben hat. Aber natürlich wird die Geschichte der drei Physiker im Stück korrekt erzählt, bei allen seriellen Wort- und Bewegungsmustern und einer echt wüsten Choreografie.
Johann Wilhelm Möbius (Sören Wunderlich) hat schließlich die Weltformel entdeckt, mit der man die bekannte Welt nicht nur restlos erklären, sondern auch total vernichten kann. Dieses Äquivalent zu Heisenberg und seinen Qualen ist eigentlich des Pudels Kern des Stücks, obwohl das Hündchen merkwürdiger nicht auftrat. Dafür ein gewisser Jedi Yoda aus dem Dagobar-System – der dunkle Sumpf dort lädt schön zum Schaukeln ein. Und zum Zitieren: Ob der Auserwählte er wirklich sein mag – große Verwirrung ich sehe in den Köpfen der Zuschauer – und in den Ohren ein kleines Ballett von Newton (Glenn Goltz) zu Jennifer Rush. Alles klar. Fräulein Doktor Mathilde von Zahnd schüttelt die Schneekugel. Pegida, Buddha, Helmut Kohl flimmern über den Screen. Ein Hamlet-Zitat, ein bisschen Jack Sparrow. „Wir sind ein Haufen platonischer Schwätzer.“
Sie merken schon, der Abend ist eine Regieeinfall-Orgie mit Planschbecken. Aber er wird auf jeden Fall nie langweilig, selbst dann nicht wenn Kriminalinspektor Voss (Manuel Zschunke) die Ermittlung in den stereotypen Mordfällen aufnimmt und darin auch untergeht. Denn ständig werden in diesem Stück, in dieser Irrenanstalt Pflegerinnen (René Fiegen) und Oberschwestern (Johanna Falkner) ermordet und die bekannten Täter können nicht belangt werden, denn die hängen von der Decke (Holger Kraft), stecken schon mal nackt im Terrarium oder saugen an der Brust von – genau: Fräulein Doktor Mathilde von Zahnd. Wie Insider natürlich wissen, hat die die Weltformel längst im Sack, da können die Physiker, die natürlich alle nicht verrückt (und damit popelige Mörder) sind, in der Klapse bleiben, wie sie wollen. Tragikomödie eben, oder aus Sicht der Leichen und potentiellen zukünftigen Opfer auch Tragödie. Gut, dass noch mal das Nordkorea-Kriegstreiber-Video eingespielt wird. Denn am Schluss bleiben nur drei Affen: Nix hören, nix sehen, nix sagen. Politische Lösung eben.
„Die Physiker“ | R: Simon Solberg | 2., 8., 28.12. 19.30 Uhr, 26.12. 18 Uhr | Theater Bonn, Kammerspiele | 0228 77 80 08
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