„Dem WDR ist es sehr wichtig, dass auch harte Kontroversen so geführt werden, dass niemand niedergeschrien wird“, leitete Moderator Jürgen Wiebicke das emotional aufgeladene Funkhausgespräch „Welche Werte wollen wir verteidigen?“ ein, in Rückbesinnung auf die abgebrochene Diskussion im Rahmen von Birlikte. Diese übertrug WDR 5 ebenfalls live, als die Antifa mit Transparenten und Trillerpfeifen auf die Bühne stürmte. Er bat das Publikum schon vor der Sendung um die Einhaltung von Fairnessregeln – niemand wusste hundertprozentig, wer mit welchen Absichten im Publikum saß, wenn auch die Vorankündigung sich sehr in Grenzen gehalten hatte und keine Taschen oder sonstigen Gegenstände in den Aufnahmesaal mitgenommen werden durften. Recht viel Sicherheitspersonal machte vor und im Saal aufmerksam seine Arbeit.
Auch Mehmet Daimagüler, ehemaliger FDP-Politiker, Jurist und Nebenkläger im NSU-Prozess, wirkte so, als sei er auf das Schlimmste gefasst und wurde von mindestens einem Zuschauer drohend mit den Fingern „erschossen“. Doch er hatte sich gut vorbereitet. Eine Diskussion mit AfD-Vertretern ist eben nicht mehr nur irgendeine Diskussion, schließlich hat die Partei 102 Sitze in Landtagen und haut unter dem Motto „Mut zur Wahrheit!“ laufend neue Behauptungen und Horrorszenarien heraus.
So ist gerade vorn auf der Webseite zu lesen, dass Frau Merkel in der England-Politik „dumpfen Populismus und geistige Brandstiftung“ betreibe, während etwa in einer Mitteilung vom 28. Juni zur Flüchtlingsfrage ganz unpopulistisch steht: „Ökonomen haben die Kosten in den nächsten sechs Jahren auf mehr als 900 Milliarden geschätzt“. Ein „illegales Einreisen“ – auch Adam lehnte in der WDR-Veranstaltung das Wort Flüchtling als „Pauschalisierung“ ab – werde durch „alle erdenklichen Sozialleistungen“ und eine zu Lasten der Steuerzahler sich bereichernde „Flüchtlings- und Wohlfahrtsindustrie“ (Weiterbildung, Kirchen…) gefördert, steht dort, natürlich alle Meinungsbekundungen bestimmten Vorstandsmitgliedern zuordenbar, von deren Aussagen sich andere notfalls immer noch distanzieren können. Das Parteiprogramm fordert passend dazu u.a. eine Strafverfolgung für „Steuerverschwendung“, Volksabstimmungen, deutsche Leitkultur, die Wiedereinführung der Wehrpflicht, wiederholt aber auch gern mal Dinge aus der realen politischen Praxis, als seien sie noch nicht eingeführt (unabhängige Richter, Steuer-Obergrenzen u.a.) und als gäbe es ohne die AfD überhaupt keine problembewusste Politik. Neid-Argumentation auf dem Rücken von Kriegsflüchtlingen, deren Religion im Übrigen in Deutschland nicht willkommen sei?
Konrad Adam, ehemaliges CDU-Mitglied, AfD-Mitbegründer und ehemaliger AfD-Sprecher, der sich an dem Abend als nach wie vor Konservativer bezeichnen ließ, präsentierte sich bürgerlich – man sah hier stark den FAZ-Redakteur (1979-2000) und politischen Korrespondenten der „Welt“ (bis 2007) durchscheinen – und wusste sich von vornherein über jede vorhersehbare Kritik erhaben. Es gab keine Frage, die er nicht zu seiner eigenen Zufriedenheit beantworten konnte, und keinen Vorwurf, den er nicht zum Rückzug in eine empörte Beleidigten-Rolle zu nutzen oder verdreht zurückzuschießen wusste. Was andere Mitglieder der AfD wie besonders Björn Höcke öffentlich gesagt haben, teilte er nicht unbedingt. „Sie wissen so gut wie ich, dass Parteien große Käfige sind, in denen viele bunte Vögel herumflattern.“
Auf Wiebeckes Nachfrage, was ihm an Höcke konkret nicht gefalle, hieß es: „Vor allem dieses maßlose Pathos, die übertriebene Gestik, mit der er seine Thesen vertritt, mit der er ausruft, die AfD, eine junge Partei, soll doch heute schon mit einem Kanzlerkandidaten antreten. Ich halte das für ziemlich übertrieben. Das wäre der dritte Schritt vor dem ersten.“ Das heißt wohl: Vorwiegend formell und strategisch sei Höcke falsch für richtige Inhalte. So hielt Adam es auch „nicht für richtig“, dass Höcke ehemalige NPD-Mitglieder in die Partei eingeladen und damit die ihm wichtige „Abgrenzung nach rechts“ behindert habe. Politisch näher fühle Adam sich Jörg Meuthen (Parteivorsitzender), Alexander Gauland (stellv. Vorsitzender) und Alice Weidel (Beisitzerin im Vorstand). Er distanzierte sich auf Nachfrage von Wolfgang Gedeon, dem vorgeworfen wird, in seinen Büchern antisemitisches Gedankengut zu verbreiten, wusste aber gar nichts vom Abgeordneten Volker Olenicak in Sachsen-Anhalt, der die Kanzlerin als „zionistische US-Agentin“ bezeichnet hat. Insgesamt schien sich Adam mit der AfD zu identifizieren und kündigte an, als nächstes in Berlin Wahlkampf zu machen.
Daimagüler unterbrach Adams abwiegelnde Äußerungen über rechtsextreme Parteimitglieder und warf ihm vor, von politisch extremen Mitgliedern zu profitieren. „Sie machen alles mit. Sie nehmen die Mandate mit, sie nehmen die Diäten mit, und dann sagen Sie, ja, wir können den leider nicht rausschmeißen. Das ist ein Teil des Geschäftsmodells der AfD.“ An anderer Stelle bezeichnete er die AfD als „doppelgesichtig“: „Wenn man untereinander ist, kann man mal so richtig die Sau rauslassen. (…) Und dann kommt man ganz gepflegt zur Podiumsdiskussion. (…) AfD ist NPD-Rhetorik nach innen und bürgerliche Rhetorik nach außen.“ Adam gab zu, dass das Problem rechtsextremistischer Parteimitglieder gelöst werden müsse. „Das ist eine Existenzfrage und das ist auch eine Frage des Anstandes.“ Herr Gedeon, dessen Ansichten er schon lange kenne, habe aber nunmal dem Ortsverband gefallen, das sei in einer Demokratie so. Er kritisierte, dass die Fraktion nun nicht direkt „politisch entschieden“, sondern zur Prüfung der Bücher Gutachter beauftragt habe.
Mehmet Daimagüler war gekommen, weil die „Biedermänner“ zu entlarven seien, die wohlgesittet und mit „bürgerlichem Habitus“ daherkämen. Er glaubte nicht an Einzelfälle auf Orts- und Länderebene, sondern bezeichnete das im Mai verabschiedete AfD-Parteiprogramm als einen „einzigen Anschlag auf unsere Verfassungsordnung“. Adam spreche in hohen Tönen vom Grundgesetz, wolle aber eigentlich eine „exklusive“ Verfassung haben, nur „für Leute, die Sie als deutsch empfinden“. So habe Gauland im Rahmen seiner Boateng-Äußerung mit Unterstützung von Poggenburg und von „Miniatur-Göbbels“ Höcke gesagt, nur weil jemand in Deutschland geboren sei und einen deutschen Pass habe, sei er noch lange kein Deutscher. „Das ist die Rückkehr zu den Nürnberger Rassegesetzen.“
Adam, der das alles nicht gesagt habe, gab sich nicht zum letzten Mal an dem Abend beleidigt: „Wenn Sie der Ansicht sind, dass hier die Rollen so verteilt sind, dass Sie der Ankläger und ich der Angeklagte bin, dann brauchen wir eigentlich nicht groß zu reden. Ich dachte, wir wollten auf der gleichen Ebene miteinander Argumente austauschen.“ Er stehe an dem Abend für sich selbst, nicht für die AfD. „Machen Sie mir klar, was ich Falsches gesagt und getan habe, dann kriegen Sie eine Antwort.“ Damit erntete der nicht-zuständige Privatmensch Applaus.
In einem vorbereiteten Statement zum Sendungsthema äußerte sich Adam dahingehend, dass ein weltanschaulich neutraler Staat Religionsfreiheit und Grundrechte zu gewährleisten habe. So weit, so gut, aber: „Der Islam gehört nicht zu Deutschland“, er ordne sich nämlich nicht unter. Daimagülers Kommentar: „Da wird ein Popanz aufgebaut, um Menschen strukturell, rassistisch auszugrenzen.“ Er sehe nicht die Gefahr, dass es darum ginge, dass in Deutschland die Scharia ausgerufen und „das saudische Königshaus installiert“ werde. Er warf Adam vor, den Koran wörtlich zu nehmen und hielt die Bibel und speziell das Johannes-Evangelium dagegen, das der überzeugte Christ Adam wiederum für deutlich weniger blutrünstig hielt. Moderator Wiebicke merkte an, dass Adam den Koran so haben wolle, „wie er vor 800 Jahren auf die Welt gefallen ist“ und die AfD in ihrem Programm mit der Abschaffung der Lehrstühle für islamische Theologie eine Weiterentwicklung liberaler Lesarten in Deutschland verhindern würde. Adam hingegen sieht da den Islam in einer „Bringschuld“.
Zu einer Polarisierung in der eigentlich toleranter gewordenen Gesellschaft sagte Daimagüler: „Ich glaube, dass ein kleiner Teil des Landes sich abgeschottet hat von der Entwicklung und sich auch radikalisiert hat, sprachlich sich radikalisiert hat, in der Tat sich auch radikalisiert hat. In Köln ist der Anschlag auf Frau Reker nicht vom Himmel gefallen, das ist das Resultat von Hetze. (…) Deswegen ist es so wichtig zu verstehen, dass am Ende der Tat, wenn die Häuser brennen, am Anfang das Wort steht. Das Wort des Hasses, das Wort der Ausgrenzung (…) Herr Adam, ihre Parteiprogramme führen dazu, dass die Häuser brennen. Machen Sie sich das bewusst.“
Auch ein Vertreter von „Köln gegen Rechts“ im Publikum sprach von einer „Unverantwortlichkeit gegenüber Handlungen, die Sie mitverantwortet haben“ und kritisierte den WDR noch für die zurückliegende Einladung Adams zu Birlikte, „ausgerechnet in die [Nähe der] Keupstraße, wo das Nagelbombenattentat stattgefunden hat“. „Das Muster, das hier stattfindet, ist dasselbe Muster, das bei der AfD die ganze Zeit stattfindet. Die eine will Flüchtlinge erschießen und die andere moderiert.“ Adam dürfe kein Forum erhalten, „so zu tun, als seien Sie in der bürgerlichen Mitte, so als seien Sie ein anständiger Mensch.“ Wiedecke wies den Vorwurf zurück, dass die Antifa bzw. „Köln gegen Rechts“ von der Presse nach der Bühnenbesetzung noch nach ihren Gründen hätte befragt werden sollen. „Das stellt die Dinge auf den Kopf.“ Nach 55 Minuten samt mehrerer längerer, zum Teil erhitzter Fragen und Wortmeldungen des Publikums war dann alles vorbei, ein Stück Diskussionskultur war ohne nennenswerte inhaltliche Ergebnisse wiederhergestellt, und besonders Daimiagüler wurde ein wenig wie ein Boxer nach dem Kampf von Freunden und Gratulanten umzingelt. Der WDR spendierte im Foyer Getränke, und das zum Teil sehr uneinige Publikum – ein paar Zuschauer, denen es wohl zu gepflegt zuging, waren schon während der Diskussion weggegangen – verfiel in rege Plauderei.
Die Aufzeichnung der Sendung ist beim WDR verfügbar.
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