Angst und Verwirrung sind ja durchaus Gefühle, mit denen True-Crime-Podcasts arbeiten. Aber so? Mitten in der Aufnahme beginnen plötzlich die Sprecherinnen Nelly (Alina Rohde) und Locke (Anja Kunzmann) zu zucken. Locke rutscht mit dem Oberkörper in den Freiraum zwischen Sitzfläche und Rückenlehne ihres Stuhls, Nelly windet sich am Boden. Was ist denn hier los? Und wo zum Teufel findet sich diese Stelle in Emily Brontës Klassiker „Wuthering Heights“ (1847, deutscher Titel: „Sturmhöhe“), der am Theater im Bauturm vorgeblich auf die Bühne kommt? Die Antwort ist einfach: Nirgendwo – und das gezeigte Stück ist auch nicht Brontës „Wuthering Heights“.
Frederik Werth greift für seine Inszenierung beim Sommerblut Kulturfestival lediglich einige Bruchstücke des Romans über die patriarchal und kolonialistisch geprägte Gesellschaft im England des 19. Jahrhunderts auf, um sie mit der Sensibilität der Generation Z zu konfrontieren. Das Ergebnis sind 70 sehenswerte Minuten zwischen peinlichem Schweigen und Verstörung: So sehr Nelly und Locke in ihrem Podcast auch über „Wuthering Heights“ sprechen wollen, es gelingt ihnen kaum – zu unangenehm sind ihnen Teile der Geschichte, in denen es u. a. um häusliche Gewalt und die Herkunft von Heathcliff geht, einem mutmaßlichen Sohn afrikanischer Sklaven. Ihre innere Zerrissenheit bleibt nicht ohne Folgen – die zwei spalten sich in vier. Während Nelly und Locke vorne auf der Bühne immer steifer werden und einige Krampfanfälle erleiden, leben ihre Alter Egos hinten auf der Leinwand alle Gefühle offen aus: Hier kotzen die beiden vor Ekel, entfliehen in Hundemasken ihrem engen Moralkorsett – und suhlen sich in einer beinahe sadistischen Freude an seelischen Abgründen.
Der Aufbau der Handlung ist denkbar einfach, trotzdem mangelt es dem Abend nicht an Tiefe. Vielmehr wirft er etliche Fragen auf: Wie soll die Gesellschaft künftig Verwerfungen aufarbeiten, wenn sie nicht mehr über diese sprechen kann? Lässt sich die Bosheit im Menschen unterdrücken? Können wir frei sein, wenn wir immer durch Moral oder Gefühle bestimmt sind? Werths „Wuthering Heights“ beantwortet keine einzige dieser Fragen. Aber ist das nicht gerade Freiheit?
Wuthering Heights | Weitere Termine im Herbst | Theater im Bauturm | 0221 52 42 42
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