Rund 78% des türkischen Volkes – das bestätigen dort selbst regierungstreue Meinungsforschungsinstitute – wissen nicht, worüber sie im April bei dem kritischsten Referendum der Geschichte des Landes abstimmen werden. Bekanntlich will Recep Tayyip Erdoğan dann nicht mehr nur Staats-, sondern auch Regierungschef sein mit Befugnissen, die auf keiner Autokraten-Wish-List fehlen dürften: von der Abschaffung des parlamentarischen Misstrauensvotums bis hin zur alleinigen Wahl der Universitätsrektoren. Demokratie adé. Das Problem ist nun, dass diese 78% für kritische Medien in der Türkei längst nicht mehr erreichbar sind.
„Wir sind in einer selbstreferentiellen Blase, in der wir nur Gleichdenkende bedienen“, so Bülent Mumay. Der FAZ-Kolumnist war Chef der Online-Redaktion der türkischen „Hürriyet“, bis er dem Erdoğan-Regime ein Dorn im Auge wurde. Und er ist einer der ExpertInnen, die an diesem Abend in der Aula der Kunsthochschule für Medien auf Einladung des Kulturforums Türkei/Deutschland Antworten geben sollen. Der deutsch-türkische Journalist und Moderator des Abends Osman Okkan fragt nach: Wie können wir hier in Deutschland den digitalen Aufstand gestalten, der eine Gegenöffentlichkeit zur türkischen Staatspropaganda schafft?
Das World Wide Web soll’s richten
Die Chronologie des Abends ist gleichsam die emotionale Talfahrt, die Oppositionelle in der Türkei und im Ausland erleben: Erst kommt die Bestandsaufnahme, es werden Solidaritätsaufrufe und -bekundungen getätigt. Da ist Hoffnung. Martina Priessners Dokumentarfilm „Everyday I’m Çapuling“ zeigt zum Schluss einen Zusammenschnitt aus Found-Footage-Material der TeilnehmerInnen der Gezi-Proteste im Jahre 2013. Euphorisch lacht man über den kreativen Protest und die Utopie einer vereinten Türkei, die in dem berühmten Gezi Park beim Taksim-Platz Realität wird. Dann kippt es. Die Bilder zeigen Polizisten, die foltern. Menschen, die in einer Wolke aus Tränengas nach Luft ringen. Man sieht die Portraits der Toten. Man verlässt fluchtartig den Saal, starrt draußen bei einer Zigarette verstört in die Leere. Und merkt dann, dass nebenan noch weiter hitzig diskutiert wird. Irgendwie geht’s weiter.
Das World Wide Web soll’s nun richten, auch wenn dies in der Türkei zuweilen nur noch „Erdoğans Tight Web“ ist. Internetseiten und selbst Twitter werden regelmäßig gesperrt. Die Staatsanwaltschaft schreibt gleichsam im Minutentakt Klagen. Über 100 JournalistInnen sind in der Türkei laut „Reporter Ohne Grenzen“ aus dubiosesten Gründen in Haft. In der Rangliste der Pressefreiheit 2016 steht die Türkei mit Platz 151 noch hinter Russland und Mexiko. Da drüben am Bosporus bis zum Euphrat ist das postfaktische Zeitalter noch eher eingebrochen, als wir es überhaupt buchstabieren konnten.
Ein Diskursraum für kritische Stimmen
Wir brauchen Mainstreammedien, sagt Mumay, die auf die gesellschaftliche Mitte abzielen. Das Wie ist das Problem. Denn (Exil-)JournalistInnen können in Deutschland zwar mit der Rückendeckung aus Gesellschaft und Politik frei arbeiten. Es existierten zwar mittlerweile eine Reihe von unabhängigen Projekten, wie das WDR-Portal „Türkei unzensiert“, die Ihre ZuschauerInnen und LeserInnen zweisprachig informieren. Doch gibt es in der Türkei ein paranoides Misstrauen gegenüber allem, was aus dem Ausland kommt. Und die anderen – nun ja, das sind eben jene aus der bereits erwähnten Blase. Eine weiteres Problem: Die Knete natürlich! „Gute JournalistInnen sagen: Nachrichten sind teuer“, so Kemal Gökhan Gürses, Karikaturist des neu gegründeten Portals „#özgürüz“ („Wir sind frei“). Wie soll man damit die nötige Recherche und die ReporterInnen finanzieren? Die Nachrichtenquellen fehlen. KollegInnen aus der Türkei wollen berichten, trauen sich aber nicht. Die finanziellen Mittel haben die regimetreuen Blätter. Denn Zeitungsanzeigen werden in der Türkei größtenteils vom Staat verteilt. In Verbindung zu „#özgürüz“, deren Gründer Can Dündar als ehemaliger Chefredakteur der größten Oppositionszeitung „Cumhuriyet“ in der Türkei als Volksverräter und Terrorist gilt, möchte sowieso niemand stehen. Also veröffentlicht man keine Nachrichten, sondern Meinungen. Das mag nicht ganz in Mumays Sinne sein. Doch geben die MacherInnen kritischen Stimmen zumindest hier in Deutschland einen Diskursraum, der ihnen sonst verwehrt bleibt.
Türkische Community greift Medien an
Für die türkische Öffentlichkeit ist die Onlineplattform „taz.gazete“ hingegen noch erreichbar. Und im Gegensatz zu „#özgürüz“ ist das Überleben des Solidaritätsprojekt der „taz.die tageszeitung“ durch den erfolgreichen Spendenaufruf der Verlagsstiftung für mindestens ein Jahr gesichert. Das Ziel ist dasselbe: JournalistInnen, die in der Türkei nicht mehr erhört werden, eine Stimme zu geben. Eine davon ist die Journalistin Michelle Demishevich, die hier mit ihrer Kolumne von ihrer doppelten Ausgrenzung als Journalistin und dazu Trans-Frau aus Istanbul berichtet. Man sei ein kleines Team, erzählt die Redakteurin Elisabeth Kimmerle auf der Bühne, jedoch mit einem weitreichenden Netzwerk – auch dank ihres Kollegen und Cumhuriyet-Redakteurs Ali Çelikkan, der mit einem Austauschstipendium zur taz kam. Als sich die Situation in der Türkei nach dem Putschversuch im Juli und dem darauf folgenden und immer noch anhaltenden Ausnahmezustand verschärfte, sah die Zeitung dringenden Handlungsbedarf. Çelikkan blieb.
Sicher fühlen sich die JournalistInnen auch in Deutschland nicht. Der Kölner Filmemacher Cem Gerçeker Tekin sagt an diesem Abend: „Die Aggression, mit der die Medien angegriffen werden, ist gerade in der türkischen Community immens.“ Mit seinem Vlog „Cemcorder“ und unterhaltsamen Themenvideos über Persönliches, Gesellschaft und Politik will er diejenigen erreichen, die „auf der anderen Seite sind“. Auch Hayko Bağdat ist zu Gast, der neben Can Dündar das prominenteste Gesicht von „#özgürüz“ ist. Die Geschichte habe gezeigt, wie der türkische Staat mit Exilanten umgegangen sei: Drohungen, Erpressungen und Anschläge. „Selbst hier befinden sich bestimmt türkische Geheimdienstler. Immerhin sollen es ja rund 6.000 in Deutschland sein. Sowas hier lassen die sich doch nicht entgehen.“
In die Zukunft schauen
Bağdat erzählt nicht nur vom Aufstand, sondern vom Zustand. Mal politisch, mal persönlich. Wobei es doch bei ihm und allen in der Türkei verfolgten JournalistInnen schon längst keine Trennung mehr zwischen diesen zwei Sphären ihrer Identität gibt. „Wir befinden uns im Kampf mit dem Staat“, sagt Bağdat. Was nun in Deutschland, der neuen Heimat, zu tun ist? „Eine Diaspora zu sein, ist wie Krebs haben. Man stirbt.“ Kampflos will man sich diesem Krebs jedoch nicht hingeben. „Lasst uns deutsche Bars ausfindig machen!“, ruft er. Lernen, wie man ein Taxi ruft und die Kinder einschult ̶ Alltäglichkeiten, die zumindest manchmal einen Teil der Identität vergessen lassen.
Aber es gibt auch jene, die diesem Ratschlag nicht folgen können. Während Bağdat in die Zukunft schauen will, sind diese in der Gegenwart der jetzigen Türkei gefangen. Und verzweifelt. „Warum haben Sie unseren Selo Başkan alleine gelassen?“, richtet sich eine Dame vor dem Ausgang halb vorwurfsvoll halb ehrfürchtig an Bağdat. „Selo Başkan“ („Vorsitzender Selo“) – so nennen die AnhängerInnen der Oppositionspartei HDP ihren Parteichef Selahattin Demirtaş, der wegen angeblicher Propaganda für die kurdische Arbeiterpartei PKK, die sich mit der türkischen Regierung in einem blutigen Krieg befindet, seit November im Gefängnis sitzt. „Aber wir haben ihn nicht alleine gelassen“, sagt Bağdat sichtlich getroffen: „Doch in der Türkei wären auch wir nur im Knast gelandet.“
taz.gazete | www.gazete.taz.de
„Türkei unzensiert“ (WDR) | www1.wdr.de/nachrichten/tuerkei-unzensiert/
Cemcorder | twitter.com/cemcorder
#özgürüz | ozguruz.org/de/ozguruz-de
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