choices sprach mit Christina Bacher, Chefredakteurin des ältesten deutschen Straßenmagazins Draussenseiter, über Menschen am Rand der Gesellschaft oder, anders ausgedrückt, die Gesellschaft am Rand der Menschlichkeit.
choices: Frau Bacher, Sie wurden kürzlich mit dem Journalistenpreis der Branchenzeitschrift medium magazin in der Kategorie „Beste Chefredaktion regional“ ausgezeichnet. Weitere Preisträger:innen sind Comedienne Carolin Kebekus und Journalist Günter Wallraff. Was bedeutet Ihnen dieser Preis?
Christina Bacher: Es ist eine tolle Rückmeldung für die Arbeit von Straßenzeitungen allgemein, die in der Medienlandschaft zu Unrecht oft nicht wahrgenommen wird. Dabei gibt es allein in Deutschland rund 50 Straßenzeitungen, die über Menschen berichten, die etwas Wichtiges zu sagen haben. Ich verstehe die Auszeichnung aber auch so, dass wir das Projekt Draussenseiter mit Crowdfunding, einer Buchveröffentlichung und anderen kreativen Ideen durch eine schwere Zeit gebracht haben, ohne unsere Verkaufenden aus den Augen zu verlieren. Und natürlich ist es eine schöne Rückmeldung für mich als Journalistin. Das tut gut!
Die Thematik Obdachlosigkeit ist in den letzten Jahren stärker ins Bewusstsein der Öffentlichkeit gelangt. Ist eine Überwindung dieser Not in unserer Gesellschaft realistisch?
Es gibt die politische Aussage, dass die Obdachlosigkeit bis 2030 abgeschafft ist. Das ist ein hehres Ziel und so in sieben Jahren nicht zu erreichen. Aber in Finnland, wo bereits seit 30 Jahren das Konzept von Housing First (Modell, bei dem eine Wohnung für alle Menschen unabhängig von sozialem, gesundheitlichem oder beruflichem Status im Vordergrund steht, Anm. d. Verf.) praktiziert wird, hat man großen Erfolg gehabt. Dort wird mittels eines Kompetenzteams jedem individuell geholfen. Es gibt dort auch kaum mehr Notunterkünfte, weil man diese Unterbringung als nicht menschenwürdig erachtet. Letztlich liegen meiner Meinung nach die Gründe für Obdachlosigkeit in der Armut und Einsamkeit, nicht nur im Mangel an Wohnungen.
Glauben Sie, dass sich dieses Modell auf Deutschland übertragen lässt?
Das erfordert viel gesellschaftliches Umdenken und eine ganz andere Hilfsstruktur. Aber es gibt Hoffnung und erste Projekte, die diesen Weg beschreiten.
Da sind wir mitten im politischen und verwaltungstechnischen Umfeld. Was wünschen Sie sich von Parteienvertreter:innen und Kommunen in Bezug auf Unterstützungsmaßnahmen?
Einerseits sehe ich überall einen großen Willen, zu helfen. Andererseits gibt es eine Doppelmoral. „Du kannst doch diesem Arbeitslosen, der nach Alkohol riecht, keine Wohnung geben.“ Ich finde, man sollte gerade jenen, denen es besonders schlecht geht, als erstes helfen. Denn diese Menschen bleiben lieber draußen als in eine Notunterkunft zu gehen.
Warum ist das so?
Weil zum Beispiel ein trockener Alkoholiker nicht mit einem Alkoholiker in einem Zimmer schlafen kann und will. Weil es eben nicht nur um das Dach über dem Kopf geht. Weil sich jemand um die persönlichen Probleme der Leute kümmern muss.
Gibt es da Städte mit Vorbildcharakter?
Hier in Köln gibt es den Vringstreff und den Sozialdienst Katholischer Männer (SKM e.V.), die das Konzept Housing First bereits umsetzen. Seit letztem Sommer gibt es zudem den Bundesverband Housing First. Ich bin Journalistin, keine Psychologin oder Sozialarbeiterin. Aber ich weiß durch meine Arbeit, dass es keinen Sinn macht, Armut nur zu verwalten.
Sie sind seit 15 Jahren in der Position der Chefredakteurin. Inwiefern hat Sie die Tätigkeit für den Draussenseiter verändert?
Ich komme vom Dorf und hatte weder mit den Themen Armut und Obdachlosigkeit noch mit dem Phänomen der Straßenzeitungen zu tun. Ich war vorher für eine Regionalzeitung, den Hörfunk und im Verlag tätig. Dieses strukturierte Arbeiten ist vollkommen anders als die Arbeit für den Draussenseiter, wo ich mit sehr vielen unterschiedlichen Menschen – von professionellen Journalist:innen über obdachlose Zeitungsverkäufer:innen bis hin zu engagierten Aktivist:innen monatlich ein Heft herausgebe. Es ist eine unglaublich spannende und herausfordernde Tätigkeit. Mich hat diese Zeit vor allem gelehrt, dass man alle Menschen gleich behandeln sollte – egal, wie viel Geld sie haben, wie sie aussehen oder wo sie herkommen. Man begegnet sich und spricht miteinander. Ich liebe diese Arbeit vielleicht deshalb, weil es so sehr menschelt.
Wie geht Ihre Familie mit Ihrem Job um? Bedeutet es, dass Ihre Kinder vorurteilsfreier aufwachsen?
Kinder haben grundsätzlich weniger Vorurteile, wenn sie die nicht gerade irgendwie aufschnappen. Ich erlebe meine Kinder, aber auch die Jugendlichen, mit denen ich auf den sozialen Stadtrundgängen zu tun habe, als ungemein aufgeschlossen und interessiert. Ich wurde mal von einem Kind gefragt, warum viele Draussenseiter-Verkäufer:innen keine Zähne haben. Die Gründe, so habe ich erklärt, sind die hohen Zahnarzt-Kosten und eine fehlende Versicherung. Somit ist man schon mitten im Thema.
Sie sind auch als Schriftstellerin mit Jugend- und Erwachsenenliteratur erfolgreich. Fließen Ihre Erfahrungen als Redakteurin eines Straßenmagazins mit in die Stories ein?
Jein. Bei meinem aktuellen Buchprojekt „Ein Schiff für den Frieden“ geht es um das Leben von Rupert Neudeck, der mit dem Seenotschiff Cap Anamur viele Menschenleben rettete. Er hat als Kind selbst eine Flucht erlebt. Er wusste, was es bedeutet, kein Zuhause oder Hunger zu haben. Mich bewegen persönliche Werdegänge und wie aus Angst Mut werden kann. Ich empfinde auch viele Obdachlose als sehr mutig.
Wie steht es denn um die Sicherheit und Zukunft des Draussenseiter beziehungsweise seines Trägervereins, des OASE e.V.? Sie müssen Ihren langjährigen Sitz im Zuge des Köln-Deutzer Hafenumbaus aufgeben. Gibt es einen Auszugs- und Umzugstermin?
Wir hoffen, dass 2023 eine neue Location bringt. Aber es gibt nichts, das momentan spruchreif wäre. Zum Glück ist die Deutzer Drehbrücke zurzeit wieder offen. Durch die Sperrung aufgrund der Bauarbeiten und die fehlenden Wegeverbindungen konnten uns viele Menschen nicht mehr erreichen. Wichtige Beratungsangebote aber auch Essens- und Postausgaben konnten nur noch eingeschränkt stattfinden. Zur Ihrer Ausgangsfrage: Wir suchen immer noch Räumlichkeiten im Rechtsrheinischen.
In vielen Gesprächen mit Vertreter:innen sozialer Initiativen geht der Trend zur Vermeidung von Forderungen zugunsten Empfehlungen. Welche Begrifflichkeit wählen Sie, wenn es um die Formulierung konkreter Absichten geht?
Bezüglich des Draussenseiter?
Ja.
Ich wünsche mir, dass die Drehbrücke weiterhin geöffnet bleibt. So haben Menschen, die auf der Straße leben, eine gute Anlaufmöglichkeit. Und ich wünsche mir, dass der Draussenseiter weiterhin auf der Straße gekauft wird, damit Begegnungen möglich sind, die sonst vielleicht nicht stattfinden. Eine Forderung ist die Umsetzung des politischen Willens, gegen Armut und Obdachlosigkeit vorzugehen und sie als erklärtes Ziel ins Auge zu fassen.
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