Auf dem Fahrrad pedaliere ich gegen Wind und Baumpollen. Echte Natur, ich beklage mich nicht. Ein Hausfrauenpanzer bedrängt mich, Einbahnstraße. Für Radfahrer*innen freigegeben. Im letzten Moment zieht der Fahrer nach Blickkontakt aber doch zur Seite, Machtpositionierung.
Mir kommt der Dampf aus der Nase und ich denke übers „Stadtradeln“ nach. Initiiert vom Klima-Bündnis, gesponsert von verschiedenen Fahrradherstellern, heißt es: „21 Stadtradeln-Tage am Stück, kein Auto von innen sehen und komplett aufs Fahrrad umsteigen“, und vor allem sollen Kommunalpolitiker*innen erfahren, was es bedeutet mit dem Rad unterwegs zu sein, um bestenfalls Verbesserungsmaßnahmen anzustoßen. Auch die Initiative „Aufbruch Fahrrad“ ist an der Organisation beteiligt und hat am selben Wochenende neun Maßnahmen zur Förderung der Fahrradmobilität vorgestellt. Diese Maßnahmen sollen in einem Fahrradgesetz verankert werden, dazu müssen sie innerhalb eines Jahres 66.000 Unterschriften sammeln.
Gewaltiges Stahl-Konglomerat
Nach mickrigen 6,5 Kilometern erreiche ich „Cycles Classic“ in der Hospeltstraße und bin froh, meine Strecke nicht getrackt zu haben – der Schnitt wäre grauenvoll.
Schweres Metalltor, hutzeliger Wohnwagen, seichter Drum’n’Bass, Stahl vermischt mit wildem Grün. Das Dach zum eigenen Hof ist improvisiert, dekorativ hängen dort PET-Flaschenhälse, sie erinnern an Efeu – nur farbenfroher. Ein roter Perserläufer weist den Weg in die eigentliche Werkstatt, die in warmen Tagen kaum genutzt wird. Lebt hier Alice im Fahrradwunderland?
Sonja Kabou trägt hochgekrempelte Jeans, Hard-Rock-T-Shirt, schwarze Schürze. Das volle, schwarze Haar unter einer beigen Kappe versteckt. Sie ist groß, ihr Gesicht zart. Und die einzige Frau, die in Köln eine Fahrradwerkstatt betreibt. Sie hat ihre Werkstatt nach außen verlagert, die Werkbankinsel ist dicht besetzt mit Werkzeug, Schrauben, Ersatzteilen. Vertieft am Montageständer bittet sie um etwas Geduld, „ich muss das hier noch eben richten“. Ich suche nach ihren Hasen, deren Futternäpfe ihre Anwesenheit verraten. Werde dabei aber immer wieder von einem alten Stahlrahmen abgelenkt. Der Werkstatt-Hof ist ein gewaltiges Stahl-Konglomerat, doch Kabou scheint das nicht zu chaotisieren. Während sie mit Jamie – der zweimal die Woche aushilft – an einer Fahrradreparatur arbeitet, huscht sie immer wieder wild wuselnd durch den Hof, schnappt sich dort ein Laufrad, nur um es auf einen anderen Stapel zu legen. In der nächsten Sekunde zieht sie einen Zettel von der Pinnwand, zündet sich eine Zigarette an und tippt auf ihrem Telefon:„Ich schreibe einer Kundin, dass ihr Rad fertig ist.“ Dabei ruft sie Sergej zu sich. Er ist Künstler und macht bei ihr ein Praktikum. Währenddessen hat sie Wasser für Kaffee aufgesetzt, die Schnelllebigkeit legt sich. Kabou, Jamie und Sergej sitzen friedfertig am Tisch, es gibt Croissants und man parliert – über Fahrräder.
Aus alt werde neu
Kabou hat sich auf die alten Fahrräder spezialisiert, „das hat sich herumgesprochen. Selten verirrt sich ein Fully oder Mountainbike.“ Kleine Reparaturen wie Züge, Schlauchwechsel oder Einstellungen führt sie direkt durch, aufwendigere Arbeiten erledigt sie in zwei, drei Tagen. „Es kommen aber auch Interessierte, die ein Rad kaufen möchten. Entweder lassen sie sich ihr vorhandenes Rad umbauen oder suchen sich aus dem Bestand einen Rahmen aus, den wir dann mit den Wunschkomponenten aufbauen. Die müssen allerdings auch im Bestand sein, ich schaffe nichts Neues an. Stahl ist so dankbar, das lässt sich immer wieder aufwerten.“
Die Motivation zur Nachhaltigkeit entwickelt sie 2013: In der Lessingstraße repariert sie mit Sohn Cyber und Partner Christoph Schumacher im Innenhof ihrer Wohnung Fahrräder für die Nachbarschaft. Dank einer Spende von 80 Fahrrädern können sie sich eine Werkstatt aufbauen: Ein Teil wird geschlachtet und dient als Ersatzteillager, der Rest wird aufgebaut und verkauft. Mit dem Umzug in die Hospeltstraße entsteht „Classic Cycles Commons“.
Schumacher ist Zweiradmechaniker, Kabou Damenschneiderin. Mit einer gegebenen Maschinenaffinität und Faszination ist sie häufig für die Wartung der Nähmaschinen zuständig, eine frühe Motorradleidenschaft instruiert erste Gekonntheiten, „vor allem Licht, das kann ich richtig gut. Aber dass ein Fahrrad aus so vielen Schrauben besteht, das musste ich erst mal begreifen.“
April 2017 steigt Schumacher aus, Kabou traut sich die alleinige Obhut einer Werkstatt nicht zu, ist immer wieder kurz davor, den Schrotthändler anzurufen und alles wegzugeben: „Jeden Montag, ein halbes Jahr lang. Tatsächlich habe ich mich verkleinert, aber ich bin geblieben. Dank einiger Zufallsbegegnungen, die mich sehr darin unterstützt haben.“
Die Handreichung erfährt sie auch durch andere Fahrradwerkstätten, die ihr bei Reparaturproblemen beistehen. Immer wieder hat sie potentielle Mitschrauber in der Werkstatt. Nicht alle begegnen ihr ohne Vorbehalte. Durch das Mackersyndrom wird ihre Mitarbeiter*innensuche zu einer „ordentlichen Abenteuerfahrt. Die Jungs haben mich immer erst belächelt und unterschätzt. Sobald ich klare Ansagen gemacht habe, hat man sich so enorm auf den Schlips getreten gefühlt. Köln ist so ein Waschbrettbauchverein. Ich weiß, dass ich präsent bin und polarisiere. Dazu bin ich eine schwarze Frau mit der schönsten Werkstatt in Köln.“ Die Suche nach einer Schrauberin war ausdauernd und bisher fruchtlos: „Es gibt einfach kaum Frauen, die gewillt sind, anzupacken.“
Im Zweifel hilft das Internet
Jamie ruft verzweifelt; der Kurbelabzieher ist verschollen. Als dieser nicht auftaucht, springt Sergej ein und fährt los zum Fahrradhändler. Das Rad soll fertig werden.
Nonkonformistisch und emanzipiert gerät Kabou auf ihrem Weg zur Autonomie immer wieder an ihre Grenzen. „Es gab Reparaturen, da wusste ich einfach nicht weiter. Also habe ich mir YouTube-Tutorials angeschaut, Schritt für Schritt.“ Hochgestimmt zeigt sie ihre neueste Errungenschaft, ein Zentrierständer und das dazugehörige „Objekt der Begierde“ – eine Nabe. „Das wird mein nächstes Ziel, ein Laufradbau.“
Hilfe zur Selbsthilfe gilt bei Classic Cycles nicht nur für Kabou selbst: Kund*innen, die selbst schrauben wollen, können die Werkstatt und das dazugehörige Werkzeug benutzen, bezahlt werden müssen nur die verbauten Ersatzteile. Die, bis auf Verschleißteile wie Bremsschuhe oder Züge, fast ausschließlich gebraucht sind. Einen Nachhaltigkeitsschlenker erlaubt sie sich dennoch: „Je nach Zustand flicke ich den Schlauch nicht mehr. Allein der ganze Verpackungsmüll bei einer Flickbox, da ist es für den Kunden und mich ergiebiger, einen neuen zu nehmen.“
Bei Wartungsarbeiten wie Kugellager reinigen und neu fetten, kommt sie zur Ruhe. „Es hat etwas Besänftigendes, und durch etwas Pflege kann man einen großen Aha-Effekt erzielen.“ Hollandräder hingegen lösen bei Kabou Widerwillen aus: „Allein schon der Kettenkasten, bis man ans Hinterrad kommt, muss man so viel beachten.“ Sergej ist zurück, Jamie freut sich, dass er weitermachen kann. Kabou gluckst auf: „Ich habe gerade die Eingebung, dass der Abzieher noch an einer Kurbel hängt.“ Sie suchen erst mal vergebens. Dafür bekommt Sergej ein neues Lernprojekt – ein Hollandrad.
Selbstvertrauen für Radfahrerinnen
Um noch unabhängiger agieren zu können, plant Kabou eine Umschulung zur Zweiradmechanikerin. Es ist ihr anzusehen, dass das letzte Jahr viel hinterlassen hat, sie lächelt tapfer, wenn sie darüber spricht, hat dabei dennoch etwas Zerbrechliches. Darum möchte sie zukünftig vor allem für Frauen Workshops anbieten, damit sie „am eigenen Rad die Basics lernen. Dadurch entsteht auch ein größeres Sicherheitsgefühl, nicht in Panik zu verfallen, wenn etwas mal klackt. Das Fahrrad kennenzulernen. Ein Selbstbewusstsein zu schaffen und nicht immer gleich die Verantwortung abzugeben.“
Kabou möchte die Szene unifizieren, träumt von Fahrradwerkstattgilde bei der Männern und Frauen qualitativ zusammenarbeiten, ohne Konkurrenzdenken. Auf Augenhöhe. „Frauen sind so erzogen worden – an Fahrräder schrauben ist nicht weiblich und Jungssache. Das ist vollkommender Quatsch. Natürlich darf Frau nicht zimperlich sein, aber aus dem Klischeedenken sollten wir längst raus sein.“ Und dennoch hat sie es hin und wieder mit einem Kunden zu tun, der es nicht begreifen kann oder will, dass eine Frau sein Fahrrad repariert.
Sie schmunzelt und schaut zu Sergej, er kämpft mit dem Hinterrad. „Nimm dir nen Stuhl und mach ganz geduldig, das brauchst du bei dem Rad.“ Sie hat das Hollandrad absichtlich ausgewählt: „Er soll alle Räder kennenlernen, ihre Tücken, ihre Vorteile.“ Jamie kommt dazu und hat Verständnis für Sergej. „Ich sehe diese Räder überall und sie machen mir Angst.“
Wenig Platz auf den Straßen
Auch mir machen sie Angst. Häufig sind genau diese Fahrräder nur in den warmen Monaten im Verkehr, unsicher und unberechenbar. Die Entwicklung zu mehr Fahrradnutzung erkennt auch Kabou an, doch bestätigt sie: „Es ist zu wenig Platz, Eltern können zum Beispiel nicht mit ihren Kindern die Venloer Straße entlang fahren. Und die erfahrenen Radfahrer kommen nicht voran.“
„Aufbruch Fahrrad“ (Webseite) fordert Maßnahmen wie „Mehr Verkehrssicherheit auf Radwegen und Straßen“ oder „Kostenlose Mitnahme im Nahverkehr“. Dabei stellt sich mir die Frage, ob „Stadtradeln“ dabei nicht eher kontraproduktiv handelt. Mit der Bestätigung, dass in der Kommune viel Fahrrad gefahren wird, könnte bei Kommunalpolitiker*innen fälschlicherweise der Eindruck entstehen, dass die Gegebenheiten gar nicht so verkehrt sein können. In Köln stadtradeln aktuell im Übrigen gerade mal neun Mitglieder des Kommunalparlaments.
Seit 1993 schon setzt sich die Initiative #RingFrei für ein „Köln aufs Rad – Ring frei für Radfahrer“ ein, zuletzt am Theodor-Heuss-Ring zwischen Bastei und Ebertplatz: Tempo 30 sowie Markierungsstreifen. Dadurch entfallen 39 Parkplätze. Kabou findet es nur richtig: „Bis auf den Lieferverkehr müssen Autos raus aus der Stadt. Es gibt einfach keinen Platz mehr. Dazu soll der Pendlerverkehr ausgebaut werden, ich verstehe die Bequemlichkeit nicht.“
Wer hatte ihn nicht, den Bekannten der außerhalb des Dorfes in der Stadt arbeiten durfte. Aufregend. Die Frau des Bekannten braucht das Auto, um die Kinder bis an die Schulbank zu fahren. Also fährt dieser Bekannte mit dem Fahrrad zum Bahnhof, um dann in den Zug zu steigen. „Und genau dafür eignen sich doch die Leihräder. Werden die überhaupt von Pendlern genutzt?“
Leihräder: Gut für die Umweltbilanz, schlecht für zugestellte Gehwege. Gemeinsam mit Fahrradleichen nehmen sie die wenigen potentielle Abschließmöglichkeiten für das eigene Rad. In Köln gibt es 1.500 KVB-Räder, 1.800 Ford-Pass-Bikes, 250 Donkey Republic. Weitere 600 Mobikes kommen hinzu.
Das Fahrrad hatte lange den Ruf, nichts kosten zu dürfen – abgesehen von der Anschaffung. „Es hat sich positiv entwickelt, die Menschen sind etwas von der Wegwerfgesellschaft weg, sie wollen ihr Fahrrad wieder herrichten und erhalten. Sind nicht mehr nur misstrauisch, wenn sie ihr Rad zur Reparatur abgeben“, so Kabou und wünscht sich auch von Radfahrer*innen mehr Toleranz. „Es gibt auch viele Fahrradidioten, die auf dem Fußweg in die entgegengesetzte Richtung fahren, dabei klingeln und aufs Handy schauen. Wegen denen hassen uns alle.“
Kabou bekommt kribbelige Finger und möchte etwas tun. Ihr Blick schweift immer wieder zu Sergej. Das Hollandrad hat nicht nur einen Kettenkasten, sondern auch einen Mantelschoner. Sergej wird es freuen. Ohne Kabou läuft es nicht. Ich bin noch ganz eingehüllt von der Stahlidylle, als ich mein Fahrrad durch das Metalltor schiebe und erschrecke: Ein fahrradfahrende Mutter fährt mich auf dem Gehweg beinahe um.
Classic Cycles | Hospeltstr. 29-35, Köln-Ehrenfeld | www.facebook.com/CCCBikes
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