Muss man wirklich immer die Wahrheit sagen? Manchmal verbieten Respekt und Höflichkeit das offene Wort. Doch wen interessiert, dass man einem Kunden zu überteuertem Preis den letzten Schrott verkaufen will? Dass die Pizza vielleicht nur mit Analog-Käse und Klebeschinken belegt ist? Dass „natives Olivenöl“ oft mehr mit der Mafia als mit Oliven zu tun hat? Dass Finanzprodukte, die Banken als „sichere“ Kapitalanlagen verkaufen, wenig zukunftsfähig sind, und dass manchmal „zulasten des Anlegers“ gedealt wird, wie jetzt ein Gericht festgestellt hat? Jeder Anthropologe weiß, die Lüge ist unverzichtbarer Teil der menschlichen Kommunikation. In der digitalen Mediengesellschaft gehört sie sogar zu den „wirksamsten Mechanismen der Systemerhaltung“, verrät uns ein Kommunikationswissenschaftler. Täuschung ist fester Bestandteil des kapitalistischen Geschäftslebens, belehren uns Wirtschaftswissenschaftler: „Der Homo oeconomicus wird betrügen, sofern er kann.“ Wenn der Betrug mit dem „Lob des ehrbaren Kaufmanns“ einhergeht, ist das die Kür. Keine Rede mehr davon, dass der Markt es schon allein richten und sich selbst reinigen wird.
Da die Gewinnspanne bei Markenartikeln besonders groß ist, wird nicht nur der europäische Markt mit nachgemachten modischen Textilien, Accessoires oder Raubkopien überschwemmt. Seit der Jahrtausendwende hat sich allein die Zahl der beschlagnahmten Produktfakes mehr als verzehnfacht – die „echten“ Marlboros im Straßenverkauf noch nicht einmal mitgerechnet. Das kann nicht nur an den Kopierkünstlern aus der „People’s Republic of Cheats“ liegen, irgendjemand muss den Chinesen die Sachen ja abnehmen. Hauptsache ist heute, dass die Marke stimmt – wenigstens auf den ersten Blick – und Eindruck macht – mindestens in der angepeilten Zielgruppe und im eigenen Umfeld.
Schnäppchen & Eitelkeiten
Wer glaubt schon wirklich, dass er für 10 Euro eine Marken-Jeans oder für 100 Euro eine echte Rolex kriegt? Man verständigt sich augenzwinkernd mit dem Verkäufer. Man weiß, es geht um Eitelkeiten, vor allem um kulturelle Distinktion. Wenn alle wichtigen Mitmenschen unauffällig ihr Schmuckstück am Handgelenk zur Schau stellen, muss man mithalten. Wenn Designerklamotten den Charakter prägen, muss man Charakterstärke beweisen. Auch der eigene Körper will mitgestaltet sein. Der Dopingmarkt lebt nicht von den Sportprofis, sondern von Amateuren, die „echte“ Leistung vorweisen wollen. Dazu steigt die Zahl der Schönheitsoperationen seit Jahren kontinuierlich.
Die besser verdienenden Kreise leben mit diesen Trends wie du und ich, nur die Objekte der Begierde und der Zur-Schau-Stellung sind andere. Der eigene Doktortitel à la Karl Theodor zu Guttenberg beispielsweise. Oder das eigene Kunstwerk an der Wand. Der laufende Kölner Prozess um die „Sammlung Jägers“ enthüllt gerade die bizarre Welt des Kunstmarktes mit seinen Gutachtern, Galeristen, Auktionshäusern und Klüngeleien. Der Coup der Gruppe um den Maler Wolfgang Betracchi ähnelt dabei in weiten Teilen dem Ablauf früherer Fälschungsskandale – den Unterschied macht der Umsatz mit den Kunstfakes, bisher sind rund 16 Millionen bekannt. Wieder einmal wird deutlich, dass Fälscher sich mit dem „System Kunstmarkt“ bestens auskennen und nur das kopieren, was das System verlangt.
Doch Köln ist nicht allein. Auch Düsseldorf ist skandalmäßig positioniert. Dort tobt der Streit um das Werk des verstorbenen Malers Jörg Immendorf. Der Kölner Galerist und Immendorf-Nachlassverwalter Michael Werner sieht den Kunstmarkt „überschwemmt von gefälschten Immendorf-Bildern“. Der Grund: Um seinen aufwändigen Lebensstil inklusive Kokain zu finanzieren, bediente sich der Künstler nach eigenen Worten zuletzt „einiger Helfer“ bei der Herstellung seiner Werke. Er signierte sie und lieferte dazu „Echtheitszertifikate“. In diese Periode fiel übrigens auch sein Bild von Gerhard Schröder, Teil der Bildergalerie im Bundeskanzleramt. Dazu verkaufte er Bilder direkt aus dem Atelier an seinem Galeristen vorbei.
Wahrheit als Kopie
„Dass große Künstler malen lassen, ist nichts Neues“, kommentierte das ART-Magazin. Auch sonst ist das mit dem Echten so eine Sache. Dalí zum Beispiel hat vor seinem Tod jede Menge leerer Blätter signiert, Picasso hat Picasso-Fälschungen für eigene Bilder gehalten. Eben hat das Getty Museum Los Angeles einen Kurator entlassen, der zu viele museumseigene Kunstwerke als Fälschungen entlarvt hat. Was wirklich Fälschungen sind, entscheidet im Übrigen der Zeitgeist. Was dem Mittelalter seine Märtyrerknochen waren, sind den digitalen Zeiten Marken. Ihre Identität speist sich aus einer Melange aus der Bereitschaft zur Show, Sehnsucht nach Authentizität und Cash. Die Technik macht authentische Kopien möglich, die vom Original nicht zu unterscheiden sind. Das betrifft nicht nur Töne und bewegte Bilder, sondern auch handgemachte Gemälde – Farbbläschen, Verwerfungen und Risse inklusive. Der Kunstmarkt muss freilich seiner eigenen Existenz wegen das Original als einzig authentisches Werk verteidigen. Für ihn ist die Ware Kunst stets die wahre Kunst. Und sonst? Kopien, Fälschungen, Fakes jedweder Art sind Teil des Alltags.
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