„Und dann ich auf ihn – bumm – bumm – und Schluss – mit Infanterie, Artillerie und massenhaft Reserven Kavallerie“. Wenn der skurrile Bruno Cathomas damit trotz Massenmord auf den ersten Schlachtfeldern des vergangenen Jahrtausend die schmalen Lacher im Kölner Depot 1 auf seiner Seite hat, hat Lilith Stangenberg ihren Auftakt-Monstermonolog (gefühlt ´ne Stunde) als Europa bereits hinter sich. Die pure Lebenslust schlich da an die Bar von„Clärchens Ballhaus“ in Berlin (Bühne:Aleksandar Denić), taumelte durch Orgasmen zwischen Politik und Erotik, bis hin zum Fall im Feld. Tauchte ab, kroch hervor, rauchte endlos – was für eine Konzentration. Und was für ein anstrengender Akt der Verfolgung wüster Wortgebilde, den das Publikum in Frank Castorfs Inszenierung von „Aus dem bürgerlichen Heldenleben“ nach Carl Sternheim da aufbieten musste – und es sollten noch über vier Stunden grandioser Fokussierung folgen, die eigentlich jeder Besuch eines Castorf-Abends erzwingt – das Premierenpublikum jedenfalls schien vorbereitet, nur einzelne entzogen sich der Exegese mehrerer Textwerke, die vonLilith Stangenbergs „Europa“ (aus dem gleichnamigen Roman) in wechselnden Rollen durchmischt werden.
Der Vorhang schließt sich, hastig wird ein Pavillon aus Kunststoff-Folie und Dachlatten errichtet, nebst unbenutztem Wasserklosett und Sitzgelegenheit. Theobald Maske hat einen Raum schaffen lassen, nachdem seine Frau Luise ihre Hose in der Öffentlichkeit verloren hat, Sternberg selbst hat die Theaterstücke„Die Hose“, „Der Snob“, „1913“ und „Das Fossil“ mit dem Roman „Europa“inhaltlich zusammengefasst. Castorf macht daraus eine wogende Melange, zur dankbaren Freude aller, hält er „fossil am Erprobten“ fest, mit Livekamera und einrollbarer Videowand, die Intimes an Mimik offenbart und später auch Erotik im Obergeschoss. Ein Krokodil kreuzt den Ballsaal, die Uckermark bringt keine Lacher, zu hochkonzentriert ist das Publikum. Ulrike zertrümmert den Pavillon, Christian Maske, das enorm schnell gewachsene Kind von Theo und Luise, schickt als Aufsteiger im Kolonialreich flugs Geliebte und Eltern in die Schweiz, zeitgenössische Zitate wehen durch den Raum und Anekdoten aus dem Theaterleben der Belle Époque.Am Ende noch das Ende von Murnaus Abenteuerfilm „Tabu“ (1931). Der russische Kosmonaut Juri Gagarin sagte: „Dunkel, Genossen, ist der Weltraum, sehr dunkel. Mehr braucht niemand zu wissen.“
„Aus dem bürgerlichen Heldenleben“ | R: Frank Castorf | 7.2., 29.2. je 18 Uhr, 9.2. 17 Uhr | Schauspiel Köln, Depot 1 | 0221 22 12 84 00
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