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Bojen der Identität

01. September 2009

Mit "Weiter anfangen. Wir fangen an" beschäftigen sich Heidrun Grote und Katja Butt mit Texten von Gertrude Stein - Premiere 09/09

choices: Frau Grote, Frau Butt, was fasziniert Sie an Gertrude Stein?
Heidrun Grote:
Die Idee, ein Projekt zu Gertrude Stein zu machen, ist schon relativ alt, und ich habe das schon vor ein paar Jahren bei c.t.201 eingebracht. Ich kannte ein paar Sätze von ihr, kannte sie als Figur, als Mäzenin und als Frau, die mit einer Frau zusammengelebt hat.
Katja Butt: Vor eineinhalb Jahren hat Heidrun mich gefragt, ob ich nicht mitmachen will, und ich habe sofort zugesagt. Ich bin Bildende Künstlerin und würde den Ursprung für meine Arbeit in der Minimal Art verorten. Da spielt die Literatur Samuel Becketts eine große Rolle, und über Beckett bin ich immer wieder auf Texte von Gertrude Stein gestoßen, die für mich eine starke bildhauerische Qualität besitzen. Außerdem interessiert mich ihre Eigenwilligkeit. Oder ihre klaren Kategorien, mit denen sie Kunstwerke bewertet hat. Sie saß auf ihrem Thron und hat dann den Daumen nach oben und nach unten gehalten. Das finde ich großartig. Wer traut sich das heute noch?

Gertrude Stein hat Romane, Kinderbücher, Stücke, Lyrik und Kinderbücher verfasst. Auf welche Texte stützt sich der Abend?
HG:
Wir haben lange gelesen und dann erst einmal eine Auswahl aus den Romanen, aus Stücken und Gedichten zusammengestellt. Im Gespräch mit zwei Dramaturginnen ergab sich dann ein Konvolut von Texten, die sich mit Themen wie Identität, Ruhm und der Sprache beschäftigen. Letztlich geht es nicht um eine Biographie von Gertrude Stein, sondern um ihr Werk. Wir haben dann in der ersten Woche zwei Schauspielerinnen und einen Schauspieler damit konfrontiert, gemeinsam für jeden Text eine theatrale Situation geschaffen und so einen dramaturgischen Bogen gefunden.
KB: Es sind Text-Fragmente, die die ganz unterschiedlichen Facetten des Werkes von Gertrude Stein zeigen. Als Spielmaterial haben die Schauspieler außerdem noch gebaute Kuben und Papier. Es war mir wichtig, dieses bildhauerische Element dazu zu bringen. Das Papier als Material, mit dem man Requisiten herstellen kann, in dem sich aber auch die Angst der Autoren vor dem Nichts, dem Anfang widerspiegelt.

Worin besteht dieser dramaturgische Bogen?
KB:
Ich-Du-Wir, das ist der Bogen. Also die Fragen: Wer bin ich? Was mache ich hier? Was ist meine Geschichte? Dann gibt es die Begegnung mit einem Gegenüber, die Konflikte. Und wenn wir Glück haben, ergibt das Ganze ein schönes Wir-Happy End.

Was ist das Besondere am Gertrude Steins Umgang mit Sprache und Identität?
KB:
Das Besondere an Gertrude Stein ist der Freiraum, den sie ihren Figuren gewährt, den sie mir als Leserin gibt. Es sind die Freiräume des Assoziierens, des Rhythmus, der Abschweifung. Ihre Texte entstanden zur Zeit des Kubismus, der ein anderes Modell von Zeit abzubilden versuchte. Zeit nicht als etwas verstanden, das nacheinander stattfindet. Ich kann meine Wahrnehmung, die in der Zeit stattfindet, auch in nur einem Bild zusammenbringen. Das tut Gertrude Stein in ihrer Sprache auch. Sie denkt nicht linear. Das hat mit Momenten des Retardierenden, die nicht nur Wiederholung sind, mit dem Rhythmus und vor allem einer Gleichzeitigkeit an Informationen zu tun.
HG: Die Romane und die Stücke von Gertrude Stein beschreiben ja kaum eine Handlung, sondern eher Zustände. Es herrscht Stillstand, und gleichzeitig passiert sehr viel. Denn der Rhythmus, der den Texten zugrunde liegt, spielt eine große Rolle. In einem Fragment kommt immer wieder das Wort „existent“ vor, „vollkommen existent“, dann folgt „sie sind am Leben“ und „die Freude am Leben“ – der Text besitzt eine Melodie und Worte, die herausfallen. Daraus ergibt sich dann ein Sinn, den ich begreife. Das funktioniert aber nur, wenn ich es laut spreche und immer wieder höre und nicht nach einem Satz aufgebe, weil ich denke, es wiederholt sich. Die Bedeutung enthüllt sich Schicht für Schicht.

Liegt darin auch eine Parallele zu Gertrude Steins Biographie, die als geborene Amerikanerin mit Deutsch und Französisch als Muttersprachen aufwächst?
HG:
Es geht auch um die Sprache und den Umgang damit. Englisch ist ja nicht ihre Muttersprache, und man hat ihr vorgeworfen, dass sie so geschrieben hat, weil sie es nicht besser konnte. Natürlich stimmt das nicht.
KB: Gertrude Stein ist jüdisch, sie ist lesbisch, sie ist Schriftstellerin mit einem nach außen sehr starken Selbstbewusstsein, das sich natürlich auch erst entwickeln musste. Es geht allerdings nicht um Heimatlosigkeit, nicht um das Sich-Auflösen in der anderen Sprache. Es geht mehr um die Differenz und die Frage, was Identität ausmacht. Ist es die Sprache? Ja, aber nicht nur. Je nach Lebensphase kann das auch das Thema Ruhm sein oder die sexuelle Ausrichtung. Es sind Ankerpunkte oder Bojen, denen man begegnet, an denen man sich festhält und feststellt, dass das ein Teil von einem selbst ist, und dann schwimmt man weiter.

Was ist das für ein Raum, in dem sich die Figuren begegnen?
KB:
Das ist eine seltsame Spielwiese. Die Figuren geraten auf eine Bühne, die ausgekleidet ist mit weißem Papier; auf der Kuben in unterschiedlicher Größe stehen, mit denen man Hierarchien bauen kann, die einem Asyl gewähren, hinter denen man sich verstecken kann, die Bauklotz sind –, die also alle möglichen Funktionen einnehmen können. Die Figuren kommen mit kleinen Köfferchen samt ihren Biographien und erfahren das Ich, das Du und hoffentlich als Happy End das harmonische Wir.

INTERVIEW: HANS-CHRISTOPH ZIMMERMANN

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