Da sitzt eine oberflächlich perfekte, beinahe spießige Familie gemeinsam um den gedeckten Abendbrottisch. Vater, Mutter, Kind. Alles scheint in Ordnung, meint der Betrachter, wenn er „Dienstag Abend“ (2018, 2 Min.) von Hannah-Lisa Paul (Regie und Buch) und Kaspar Achenbach (Bildgestaltung) sieht, wäre da nicht der verzweifelte Gesichtsausdruck der Mutter, die vergeblich versucht, ihre Tochter davon zu überzeugen, länger am Tisch sitzen zu bleiben – aus Angst vor ihrem eigenen Mann, in ihrer eigenen Küche. Die bürgerliche Fassade bröckelt. Die vermeintliche Sicherheit des privaten Raumes entpuppt sich als grausame Farce.
Da ist der Kurzfilm „Tu Lugar/Dein Ort (2018, 1:10 Min.)“, in welchem der Ehemann nachts mit seinem Ellenbogen – achtlos – seine Frau aus dem gemeinsamen Bett stößt, welche daraufhin in einen Wasserstrudel gerät. Der Film von Agustina Sánchez Gavier (Regie und Buch) und Martin Paret (Bildgestaltung) stößt den Zuschauer sinnbildlich und Frauen wortwörtlich auf das Thema: Wie viel Raum bleibt Frauen in einer von Männern dominierten Gesellschaft? Wo landen jene?
Und da ist der bewegende Kurzfilm „Kraft“ (2018, 1:30 Min.) von Sophie Dettmar (Regie und Buch) und Chantal Bergemann (Bildgestaltung), in welchem die Kamera konstant over shoulder auf eine Papierfigur hält, die gefaltet wird: Jene versucht, sich zu bewegen, sich zu entfalten, bevor sie schließlich wütend zerknüddelt wird. Nie aber ist das Gesicht derjenigen, die sie in den Händen hält, zu sehen. Stattdessen wird ein dünner Papiervogel zur Metapher für die außerordentliche Kraft von Frauen, die sexualisierte Gewalt überlebt haben. Denn Kraft ist es, was Frauen im Falle einer oder – wie in diesem Fall – sogar mehrerer Vergewaltigung(en) wohl am ehesten brauchen. „Jede Nacht holten sie andere Frauen. Manche auch mehrmals“, sagt die Betroffene aus dem Off. Dünn, sehr dünn ist das Eis, auf dem sich Frau seither bewegt, sind ihre Gefühle doch, seit ES geschah, vehement durcheinander geraten, versucht sie doch seitdem zu überleben, was ihr mal weniger, mal mehr gelingt.
Mal wird das schreckliche Verbrechen, um das es hier geht, auf stille, leise Weise durch eisiges Schweigen kommuniziert, wodurch es noch lauter und hörbarer wird. Mal via humorvollem Dialog, wie im Spot „Safe Space“ (2018, 2 Min.) von Luka Lara Charlotte Steffen und Chantal Bergemann (Bildgestaltung), in welchem sich Freunde, gemeinsam lachend, über Übergriffe unterhalten und so eine gewisse Sicherheit in der Gemeinschaft erlangen. Während die Herangehensweisen und Kommunikationsmittel variieren, ist das Thema immer gleich: In den fünf bewegenden Kurzfilmen, „Social Spots“, von Studentinnen der KHM geht es jeweils um sexualisierte und körperliche Gewalt an Frauen, die nicht selten in den eigenen vier Hauswänden geschieht. Um die Fragestellung: Wie stellt man ein äußerst hartes Thema, von dem Frau als Regisseurin oder eine ihr nahestehende Person vielleicht sogar selber betroffen ist, künstlerisch dar, um einerseits der Schwere gerecht zu werden, gleichzeitig jedoch nicht retraumatisierend für Betroffene zu sein? Wie kann Frau einem unaussprechlichen Thema, das einem die Sprache verschlägt und Traumata auslöst, eine Sprache verleihen?
Spätestens seit #metoo ist das Thema „Sexuelle Gewalt gegenüber Frauen“ wieder laut geworden und damit auch der Gedanke „ES kann jede von uns treffen“. ES ist – auch im Jahr 2018, trotz Emanzipation – (noch immer) unter uns. ES lauert nicht nur im Dunkeln draußen im Park, sondern nicht selten im häuslichen Wohnzimmer oder am eigenen Arbeitsplatz. Das Projekt der Kölner Hochschule für Medien, das gemeinsam mit der Kölner Frauenrechtsorganisation medica mondiale initiiert wurde, entstand jedoch noch vor der Sexismus-Debatte: Vom Sommer- bis Wintersemester 2017 wurde das aufwühlende Thema unter der Leitung von Lars Büchel, Professor für Spiel- und Werbefilm an der KHM, sensibel umgesetzt,um einerseits gemeinsam mit den Studenten praktisch zu testen, wie bedeutsame Botschaften kreativ via Filmen der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden können. Und wie, andererseits, mittels innovativer und unerwarteter Methoden das Publikum für dieses Thema sensibilisiert wird.
„Jede vierte Frau in Deutschland erlebt mindestens einmal in ihrem Leben körperliche oder sexualisierte Gewalt“, sagt Sybille Fezer, Vorstandsfrau von medica mondiale, einer Organisation, die sich seit 25 Jahren um die Belange von überlebenden weiblichen Opfern sexueller Gewalt in Krisengebieten kümmert.Eine Intention der Social Spots ist, leidtragende Frauen aus dieser grauen Statistik zu holen, zu sagen: „Es sind Frauen, keine Zahlen“,wie es die Studentin und Regisseurin Jelena Ilic in ihrem Stück „Für Frauen“ (2018, 1:30 Min.) klarmacht. Denn Statistiken weisen zwar auf die Allgegenwärtigkeit dieses Themas hin, zeigen, wie brisant und hochaktuell sexuelle Übergriffe sind, reduzieren Betroffene jedoch lediglich auf Zahlen, die keine Emotionen und persönlichen Geschichten zulassen. Dabei geht es hier um nichts Geringeres als um Vergewaltigungen. Missbrauch. Um sexuelle Übergriffe. Gewalt. Verbrechen.
Die fünf Regisseurinnen Sophie Dettmar, Hannah-Lisa Paul, Jelena Ilic, Luka Lara Charlotte Steffen und Agustina Sánchez Gavier beschäftigen sich in ihren Kurzfilmen aber auch mit ganz konkreten, praktischen Fragen: Wie verarbeite ich das Erlebte? Was kann ich als Betroffene tun? Was sind die Konsequenzen und Ursachen? Wie setze ich mich zur Wehr? (Wie) spreche ich mit meiner Umwelt über ein Tabu? „Die Filme zeigen die Kraft der Frauen und machen sie nicht erneut zum Opfer. Damit leisten sie einen wichtigen Beitrag zur aktuellen Diskussion um Geschlechtergerechtigkeit“, so Sybille Fezer.
Mehr noch werfen sie aber auch eine gesellschaftliche Frage auf: Wo hört Gleichberechtigung eigentlich auf, und wo fängt Gewalt an? Ein sensibles, nicht leicht zu definierendes Thema, das in Agustina Sánchez Gaviers Spot thematisiert wird: In „Dein Ort“ wird deutlich, dass die Grenzen oft schwimmend sind, dass Sexismus viel früher stattfindet als gedacht. Eine Frage, die uns alle betrifft und die es zu überdenken gilt: Wird die Frau in ihrem Film es schaffen, sich aus dem Wasserstrudel zu befreien? Oder wird sie untergehen? Statt im patriarchalen Meer zu ertrinken, gelingt es der Protagonistin zu überleben. Und auch die Betroffene in „Kraft“ schlussfolgert – trotz aller grausiger Realität: „Ich habe keine Tränen mehr, aber ich werde mich nicht dafür schämen.“ Somit ist sie nicht mehr nur Opfer. Gemäß des dünnen, zerbrechlichen Papiers, das am Ende zerknüllt wird, hat sie hat es geschafft, sich aus ihrer Dünnhäutigkeit zu befreien, ihr Leben wieder in die Hand zu nehmen.
An der KHM ist es gelungen, einem wichtigen Thema, künstlerisch Ausdruck zu verleihen. Ohne kitschige Emotionalisierung. Ohne die Frauen auf ihre Opferrolle zu reduzieren. Sondern, sie als das zu sehen, was sie sind: Menschen. Keine Zahlen.
„Mit Filmkunst gegen Gewalt an Frauen: Social Spots“ | KHM in Zusammenarbeit mit medica mondiale | Info: www.khm.de | www.medicamondiale.org
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