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Mehmet Daimagüler, Leonard Novy, Marina Weisband und Volker Beck
Foto: Seyda Kurt

Der Rock ist weiß, verdammt!

15. Februar 2017

Carta-Salon im Theater im Bauturm diskutiert „alternative Fakten“ und rechte Gewalt – Spezial 02/17

„Früher schrieben sie: Wir knallen dich ab. Heute heißt es: Wir stellen dich vor Gericht und knallen dich danach ab.“ Der Rechtsanwalt Mehmet Daimagüler ist einer von jenen, die am besten wissen, dass sich die Rechten in Deutschland und in der Welt erstarkt fühlen – nicht mehr als eine radikale Minderheit, sondern gleichsam als eine bestimmende Mehrheit: „Die fühlen sich wie 1933 vor der Machtergreifung.“ Aber nein, entgegnet der Grünen-Politiker Volker Beck. Mit dem Faschismus solle man nicht direkt um die Ecke biegen. Doch die Nationalisierung werde in der Tat immer stärker, so wie er diesen Kontinent in schweren Zeiten schon immer überfallen habe.

Damit sind am Montagabend die Rollen beim ersten Carta-Salon im Theater im Bauturm verteilt: Bei der Diskussion zur Frage „Demokratie am Rande des Nervenzusammenbruchs?“ ist Daimagüler der Mann der mitreißenden und aufrüttelnden Worte. Volker Beck wechselt zwischen wohltuenden Relativierungen und Appellen an das individuelle Gewissen: Man empöre sich über Trumps Mauer zu Mexiko, aber was hätten wir EuropäerInnen denn eigentlich da an der Grenze zur Spanischen Exklave? 

Die Publizistin und Psychologin Marina Weisband hingegen kümmert sich an diesem Abend um das Konkrete. Sehr differenziert analysiert sie die Wechselbeziehung von Medien, allgemeiner Verunsicherung und der Zunahme autoritärer Tendenzen: „Trump möchte uns zum Hals heraushängen, das ist seine Strategie.“ Er nutze ganz bewusst die Möglichkeit, absurden Quatsch zu erzählen – und eben absurd zu lügen. Das funktioniere etwa so: „Mein Rock ist weiß“, sagt Weisband. „Nein“ entgegnet der Moderator des Abend, Journalist und Politikwissenschaftler Leonard Novy. Denn der Rock ist schwarz, doch Weisband ist von ihrer Meinung scheinbar nicht abzubringen. Zur Not müsse man eben das Konzept „Farbe“ als solches in Frage stellen, entgegnet sie.

Derart solipsistische Ausuferungen gehören heutzutage zum politischen Diskurs. Das Ergebnis: Niemand weiß mehr, was wahr ist. Zurückgeworfen auf sich selbst, werde man handlungsunfähig, so Weisband. Auf kollektiver Ebene bedeute das: Nationalisierung. Im globalen Kontext: Nationalisierung der Internationalen. Die Desinformationsstrategien seien länderübergreifend untereinander bestens vernetzt. Weisband erklärt, dass dieselben Twitteraccounts, die einst gegen die Proteste auf dem Majdan gehetzt hätten, nun Propaganda für Trump machen würden. Es sind Quellen, die uns immer und immer wieder weismachen wollen, dass dieser verdammte schwarze Rock eigentlich weiß ist.


Mehmet Daimagüler und Leonard Novy, Foto: Seyda Kurt

Denn dass der weiße Rock als weißer Rock gilt, ist im sogenannten „postfaktischen Zeitalter“ keine Selbstverständlichkeit mehr. Und von Selbstverständlichkeiten, die uns abhandenkommen, handelt dieser Abend. Was hilft etwa den demokratischen Kräften aus ihrer Schockstarre? „Einfach dieses schöne alte Wort: Solidarität“, sagt Daimagüler. Seit fünf Jahren ist er Nebenkläger im NSU-Prozess, in dessen Kontext man oft – völlig zu Recht – vom „Versagen des Staates“ spreche. Doch haben wir nicht alle versagt? Niemand habe sich mit den Opfern des Terrortrios solidarisiert, so Daimagüler. Selbst die türkische Community habe aus Feigheit geschwiegen. Von diesem Sich-Raushalten hätten auch die Nazis gelebt, pflichtet Volker Beck bei.

Wie soll es nun bei drei Gästen mit derart ähnlichen Ansichten zu einem Streitgespräch kommen? Die Justiz solle die vorhandenen Gesetze auch bei Morddrohungen auf Facebook anwenden, sagt Daimagüler. Man ist sich einig auf der Bühne. Wenn tägliches Engagement für die Demokratie zu viel erwartet sei, solle man doch wenigstens alle vier Jahre zur Wahl gehen. Einvernehmliches Nicken. Racial Profiling bei Polizeieinsätzen sei verfassungswidrig. Stimmt. Doch zum Glück sind die Sitze des Theaters bis auf den letzten Platz mit einem Publikum belegt, das auf Kontroversen aus ist. „Das Problem liegt doch hier im Raum“, sagt eine Dame. „Wer ist hier nicht Akademiker? Oder links sozialisiert? Hier muss doch sowieso niemand mehr überzeugt werden.“ Die Frage müsse sein: Wie erreicht man die Leute außerhalb unserer „Filterblase“? Und wer sind die überhaupt?

Es sind Menschen mit einem Ohnmachtsgefühl, sagt Weisband. Es sind Menschen, die denken: Irgendetwas muss passieren, wenn auch nur „Bullshit“. Man habe den Eindruck, politische Prozesse nicht beeinflussen zu können, dass Parteiprogramme nicht glaubwürdig seien. „Hartz IV“, hustet sie dabei demonstrativ in Becks Richtung, dessen Partei in der Koalition mit der SPD die Agenda 2010 wesentlich mittrug. Doch an diesem Misstrauen könne man arbeiten, ermutigt Weisband. Dazu müsse man etwa die Bildungsausgaben steigern. Was geschehe, sei jedoch das Gegenteil: Gerade in Sachsen habe man die Unterrichtsstunden für politische Bildung erneut gekürzt – auf lediglich 50 Stunden in der gesamten (!) Bildungslaufbahn.

Auch müsse man etwa mit der AfD eine Bühne teilen, sagt Daimagüler, um sie jedoch mit einer klaren Sprache zu demaskieren – eine außerordentlich schwierige Gratwanderung einer sachlichen Auseinandersetzung, die jedoch nicht wie eine diskutable Legitimierung menschenfeindlicher Ansichten wirken darf. Auch Beck betont, dass man Rechten gegenüber eine Frau mit Kopftuch als Minderheit schützen, doch gleichzeitig einem Teil muslimischer Männer deutlich machen müsse, dass in unserer Gesellschaft Frauen frei und selbstbestimmt leben können. – Gemeinschaft ist kompliziert.

Und nun? Soll man der Stärkung der Demokratie willen in die etablierten Parteien eintreten, die erst durch intransparente Politik das von Weisband geschilderte Ohnmachtsgefühl erzeugt haben? Oder soll man gleich selber anpacken, die Sache im Lokalen angehen, in der Nachbarschaft, auf der Straße – ohne Parteienpolitik? Oder gleich eine eigene Partei gründen? „Tun Sie das nicht!“, sagt Weisband, ehemalige politische Geschäftsführerin der Piratenpartei, „Ich war da!“ Das Publikum lacht. Warum könne man nicht gleich „dieses System“ abschaffen, will ein junger Mann wissen. Und das ist augenscheinlich ein Moment, in dem Beck gleichsam die Fassung verliert: Auch Linke dürften nicht von „diesem System“ sprechen! Will heißen: Das ist Populisten-Rhetorik. Mit dieser totalen Negation der repräsentativen Demokratie treibe man die Leute in die Arme von Petry und Trump.

Weisband betont ebenso, dass sich unser parlamentarisches System bewährt habe. Stattdessen plädiert sie für eine moderate Weiterentwicklung, die Defizite beseitigen kann. Ein Stichwort sei da etwa „Liquid Democracy“: Angela Merkel fälle einen Großteil ihrer Regierungsentscheidungen aufgrund von Volksumfragen. Das Problem: Diese sind nicht repräsentativ. Doch die Mittel der Repräsentation habe jeder selbst in der Hand: das Internet – die Möglichkeit, PolitikerInnen kontinuierlich Feedback und politische Handlungsimpulse zu geben.

Und auch Daimagüler kann dem Zustand der Gesellschaft noch etwas Gutes abgewinnen: „Wir könnten mal stolz darauf sein, was wir geschaffen haben“, sagt er über das nie zuvor gewesene Maß an individueller und politischer Freiheit im Lande. Da ist er wieder, der Konsens. Doch ist es auch dieser, wie eine Dame aus dem Publikum völlig richtig festhält, der die Voraussetzung für Veränderung ist. Und auch nur in einem homogenen Raum kann man sich zuweilen die Bestätigung holen, dass manche Selbstverständlichkeiten nicht diskutabel sind – dass es Fakten und Werte gibt, auf deren Grundlage man gemeinsam handlungsfähig wird. Was passiert, wenn diese fehlen, lässt Theaterintendant Laurenz Leky bei einem Stück von Shakespeare hören, mit dem er Gäste und Publikum an diesem Abend verabschiedet: „…und raubfischgleich wird der Mensch den Menschen fressen.“

Der nächste Carta-Salon ist für Mai geplant.

Seyda Kurt

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