Nachdem die Mänaden den Sänger Orpheus zerrissen hatten, warfen sie seinen Kopf in den Fluss Evros in Thrakien. Singend trieb der Schädel flussabwärts. Auch heute treiben Leichen im Evros: Er markiert die Grenze zwischen Europa und der Türkei und ist zur streng bewachten Außengrenze der Festung EU geworden, an der die Grenzagentur Frontex das Sagen hat. Zum Singen ist dort inzwischen niemandem mehr zu Mute. Die andcompany&Co. nutzt die mythologisch-realistische Koinzidenz als Anregung für ihre Produktion „Orpheus in der Oberwelt: Eine Schlepperoper“.
Auf der Bühne stehen kleine fahrbare Felsversatzstücke vor einer Mauer der Zeichen. Die Truppe in ihren Ganzkörperanzügen mit Wärmebildkamera-Optik hockt da, fliegt rudernd umher, umrundet das Eiland oder erstürmt die Inselchen. Man bricht ironisch eine Lanze für die Schlepper, die hier Reiseleiter genannt werden – angeblich ein Beruf wie viele andere. Wie Vögel hocken die Schauspieler auf den Felsen, stülpen sich buntbemalte Schnabelmasken über. Zeit für die Ornithologen und ihre Tag- und Nachtsichtgeräte. Wen beobachten sie? Vögel im Naturschutzgebiet am Evros? Dunkle Vögel? Oder Hermes, den Gott der Reisenden, der Diebe, den geflügelten Boten, der auch die Toten in die Unterwelt geleitete?
Musikalisch sorgen zwei Sänger und ein Trio aus Flöte, Cello und Cembalo mit Bruchstücken aus Monteverdis und Glucks „Orpheus“-Opern für Bildungsbeflissenheit, während auf der linken Seite der Komponist Sascha Sulimma am Computer das Geschehen mit Songs und Beats im typisch Eislerschen Marschrhythmus untermalt. Der Abend changiert zwischen Mythologie, Trash, Information und Ästhetisierung. Frontex trifft auf Hermes, tote Flüchtlinge auf zeichenhafte Piktogramme, Vogelkundler auf Koloraturen. Doch bei allem Spielerischen, aller Ironie: Dem Abend haftet etwas Dringliches an, das die szenische Assoziation und die theatrale Bricolage für eine appellative Haltung nutzt – eine AgitProp-Haltung, die den stilistischen Mix an Mitteln fokussiert auf eine scharfe Kritik an der skandalösen Flüchtlingspolitik der EU.
„Orpheus in der Oberwelt“ | R: andcompany&Co. | FFT Düsseldorf | keine weiteren Vorstellungen | 0211 87 67 87 0
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
Licht in der Finsternis
„Brems:::Kraft“ in Köln und Mülheim a.d. Ruhr – Theater am Rhein 01/25
Ausweg im Schlaf
„Der Nabel der Welt“ in Köln – Theater am Rhein 01/25
Klamauk und Trauer
„Die Brüder Löwenherz“ in Bonn – Theater am Rhein 01/25
Ein Bild von einem Mann
„Nachtland“ am Theater Tiefrot – Theater am Rhein 12/24
Fluch der Stille
„Ruhestörung“ am TdK – Theater am Rhein 12/24
Im Land der Täter
„Fremd“ am Theater Bonn – Theater am Rhein 12/24
Das Mensch
„Are you human“ am TiB – Theater am Rhein 12/24
Wege in den Untergang
„Arrest“ im NS-Dokumentationszentrum Köln – Theater am Rhein 10/24
Bis der Himmel fällt
Franz Kafkas „Der Bau“ am Theater der Keller – Theater am Rhein 09/24
Feder statt Abrissbirne
„Fem:me“ in der Alten Feuerwache – Theater am Rhein 07/24
Der Untergang
„Liquid“ von Wehr51 – Theater am Rhein 07/24
Gefährlicher Nonsens
Kabarettist Uli Masuth mit „Lügen und andere Wahrheiten“ in Köln – Theater am Rhein 07/24
Den Schmerz besiegen
„Treibgut des Erinnerns“ in Bonn – Theater am Rhein 07/24
Alles über Füchse
„Foxx“ in den Ehrenfeldstudios – Theater am Rhein 07/24
Vergessene Frauen
„Heureka!“ am Casamax Theater – Theater am Rhein 06/24
Freiheitskampf
„Edelweißpiraten“ in der TF – Theater am Rhein 06/24
Menschliche Eitelkeit
„Ein Sommernachtstraum“ in Köln – Theater am Rhein 06/24
Die Grenzen der Freiheit
„Wuthering Heights“ am Theater im Bauturm – Theater am Rhein 06/24
Erschreckend heiter
„Hexe – Heldin – Herrenwitz“ am TiB – Theater am Rhein 05/24
Verspätete Liebe
„Die Legende von Paul und Paula“ in Bonn – Theater am Rhein 05/24
Schöpfung ohne Schöpfer
Max Fischs Erzählung „Der Mensch erscheint im Holozän“ am Theater der Keller – Theater am Rhein 05/24
Zeit des Werdens
„Mädchenschrift“ am Comedia – Theater am Rhein 05/24
Für die Verständigung
Stück für Gehörlose am CT – Theater am Rhein 03/24
Im Höchsttempo
„Nora oder Ein Puppenhaus“ in Bonn – Theater am Rhein 03/24
Musik als Familienkitt
„Haus/Doma/Familie“ am OT – Theater am Rhein 03/24