Wenn deutsches Liedgut auf ein Meer voller Leichen prallt, dann sollte sich eigentlich nicht mehr die Frage nach einer Leitkultur von wem auch immer stellen. Dann heißt es, sich nur noch schämen. Im Depot 2 macht Regisseur Thomas Jonigk die Leiche an sich erst einmal zum Requisit und dann zum roten Faden durch die aktuelle Selbstbefindlichkeit westlicher Gesellschaften, in denen sich existenzielle Angst im Kapitalismus längst nicht nur in Ablehnung alles Fremden, sondern längst in stumpfen Hass verwandelt hat. Und wenn sich drinnen jeder ständig sorgt, dann verliert er den Blick für die Wahrheit da draußen, wusste schon Johann Wolfgang, und der hatte eigentlich mit der künstlichen Erhöhung von Affekten nichts an Hut. Er wäre aber sicher interessiert gewesen, wenn die nackte Leich´ (Justus Maier) plötzlich vom Seziertisch hüpft.
Jonigks Theaterfassung „Gegen den Hass“ nach dem gleichnamigen Buch von Carolin Emcke spielt nicht mit diesen zeitgenössischen Plattitüden zwischen dem vollen europäischen Boot bis zum fast biblischen Hass auf die vermeintlichen Jesusmörder. Die Regie braucht dafür nur eine schlichte weiße Projektionswand mit Türen auf der Bühne, die als Dritte Wand (Lisa Däßler) mal vor- und zurückfährt und die Distanz zwischen Publikum und Protagonisten auch mal extrem verkürzt. „Wir sind das Volk“ grölt es da, gleich nach „Du bist die Ruh“ von Franz Schubert. Bei der Busblockade von Clausnitz besetzten eine Handvoll Dumpfbacken den öffentlichen Raum und verletzten mit dieser Volks-Lüge die Lebensleistung einer ganzen Generation Ostdeutscher Freiheitkämpfer. Ob das wirklich darin kulminiert, dass selbst ein Rassist kein Rassist sein möchte, sei so stehengelassen.
Ein großer schwarzer Affe belebt die Szene, ja es war ein weiter evolutionärer Weg vom Schimpansen zu gewissen braunen Alternativen für Deutschland, und es scheint so als entwickelten wir uns wieder zurück, hätten Heimweh nach einer Fauna, die es so nie gegeben hat. Aber es gab die Menschwerdung in Kubricks Odyssee im Weltraum, und so taumeln am Schluss vier Astronauten durch diese hasserfüllte Welt. Demokratische Herrschaft der Mehrheit, die sich von Populisten das Hirn zuquatschen lässt, führt zwangsläufig wieder zur Diktatur der Hirnlosen. Ein wichtiger, textvisueller Abend für die, die nicht jeden Tag mit nassen Augen an Aylan Kurdi denken müssen.
„Gegen den Hass“ | R: Thomas Jonigk | 2., 9., 28.11. je 20 Uhr, 1.12. 19 Uhr | Schauspiel Köln | 0221 22 12 84 00
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
Vererbte Traumata
Stück über das Thiaroye-Massaker am Schauspiel Köln – Prolog 12/24
Flucht auf die Titanic
„Muttertier“ am Schauspiel Köln – Prolog 03/24
Parolen in Druckerschwärze
„Die verlorene Ehre der Katharina Blum“ am Schauspiel Köln – Auftritt 03/24
„Es wird ein Kampf um Vormachtstellung propagiert“
Rafael Sanchez inszeniert „Die letzten Männer des Westens“ am Schauspiel Köln – Premiere 03/24
Dunkle Faszination
Franz Kafkas „Der Prozess“ am Schauspiel Köln – Auftritt 02/24
Wiederholungsschleife
„Soko Tatort“ am Schauspiel Köln – Theater am Rhein 02/24
Standbein und Spielbein
Pinar Karabulut und Rafael Sanchez gehen nach Zürich – Theater in NRW 01/24
„Der Roman lässt mich empathisch werden mit einer Mörderin“
Regisseur Bastian Kraft über „Die verlorene Ehre der Katharina Blum“ – Premiere 01/24
Ein Martyrium der Erniedrigung
„Kim Jiyoung, geboren 1982“ am Schauspiel Köln – Auftritt 12/23
Ohne Opfer kein Krimi
„Soko Tatort“ am Schauspiel Köln – Prolog 12/23
Ende der Zivilisation
„Eigentum“ am Schauspiel Köln – Theater am Rhein 11/23
Verliebt, verlobt, verlassen?
„Erstmal für immer“ am Schauspiel Köln – Prolog 10/23
Licht in der Finsternis
„Brems:::Kraft“ in Köln und Mülheim a.d. Ruhr – Theater am Rhein 01/25
Ausweg im Schlaf
„Der Nabel der Welt“ in Köln – Theater am Rhein 01/25
Klamauk und Trauer
„Die Brüder Löwenherz“ in Bonn – Theater am Rhein 01/25
Ein Bild von einem Mann
„Nachtland“ am Theater Tiefrot – Theater am Rhein 12/24
Fluch der Stille
„Ruhestörung“ am TdK – Theater am Rhein 12/24
Im Land der Täter
„Fremd“ am Theater Bonn – Theater am Rhein 12/24
Das Mensch
„Are you human“ am TiB – Theater am Rhein 12/24
Wege in den Untergang
„Arrest“ im NS-Dokumentationszentrum Köln – Theater am Rhein 10/24
Bis der Himmel fällt
Franz Kafkas „Der Bau“ am Theater der Keller – Theater am Rhein 09/24
Feder statt Abrissbirne
„Fem:me“ in der Alten Feuerwache – Theater am Rhein 07/24
Der Untergang
„Liquid“ von Wehr51 – Theater am Rhein 07/24
Gefährlicher Nonsens
Kabarettist Uli Masuth mit „Lügen und andere Wahrheiten“ in Köln – Theater am Rhein 07/24
Den Schmerz besiegen
„Treibgut des Erinnerns“ in Bonn – Theater am Rhein 07/24