Die Welt ist ein riesiges Spinnennetz, darin gefangen Mendel Singer und seine Familie. Anfangs haben sie sich darin arrangiert, turnen hindurch, planen die Zukunft. Doch die Schatten sind lang und werden diese Familie begleiten.Sandra Strunz inszeniert am Bonner Theater Joseph Roths 1930 erschienenen Roman „Hiob“, in dem die Geschichte der russisch-orthodoxen Judenfamilie Singer vom Ende des 19. Jahrhunderts bis zum Ende des Ersten Weltkriegs erzählt wird. Wie sein biblisches Pendant mussMendel Singer in seinem Glauben Schicksalsschläge ertragen, die weit über die Grenzen menschenmöglicher Leidensfähigkeit zu reichen scheinen, manches hat er aber auch selbst zu verantworten. Gott hilft gerne denen, die sich selbst helfen, das Argument seiner Frau Deborah (Sophie Basse) verwirft der konservative Toralehrer und erträgt die Bürde bis zu einem finalen Punkt.
Strunz legt viel Augenmerk auf die einzelne Person und ihre Interaktionen. Mit viel choreografischem Beiwerk, zwei ausgezeichneten, immer mitagierenden Bühnenmusikern (Rainer und Karsten Süßmilch) erzeugt sie zahlreiche „artifizielle“ Standbilder, die wie Videostills Punkte in der laufenden Handlung markieren oder diese zusätzlich beleuchten. Anders als in der Kölner Hiob-Inszenierung von Rafael Sanchez bleibt hier das explizit jüdisch Einzigartige oft auf der Strecke, Wolfgang Rüter ist beileibe nicht der im Martyrium des Lebens und im streng orthodoxen Regelwerk der Altväter versunkene Jude. Das psychologische Momentum des Umgangs mit behinderten Familienmitgliedern drängt in den Vordergrund, auch angesichts der überzeugenden Leistung von Samuel Koch als Menuchim, der erst beim Applaus tatsächlich im Rollstuhl erscheint. Noch im zaristischenSchtetl irgendwo in Russland klären sich die zukünftigen Lebenswege. Die Ehe mit Deborah ist auf einem emotionalen Tiefpunkt. Mendels Kinder rebellieren gegen die Glaubenssätze des Vaters, der einfältige Jonas will Bauer werden und zum Militär, er will saufen und rumhuren, während Schemarjah bereits den amerikanischen Traum im Herzen trägt. Auch Tochter Mirjam fühlt sich im engen Korsett der Tora nicht wohl, flüchtet zu den Kosaken. Gemeinsam ist ihnen die Unfähigkeit im Umgang mitMenuchim, den sie wie einen Sack Kartoffeln herumzerren und dabei fast umbringen. Dann geht vieles ziemlich schnell.Schemarjah landet, von Mutters Erspartem gerettet, in New York, wird reich und holt seine Eltern nach. What a wonderful world. I want to be in Amerika, natürlich wird es bei der West Side Story wieder choreografisch, während Einkaufstüten wie bei einer Parade von der Decke flattern und Mirjam Marilyn Monroe zitiert. DasMartyrium hört dennoch nicht auf. Krieg, Tod der Kinder, Tod der Frau, Wahnsinn der Tochter machen Mendel Singer fertig, töten den Glauben, doch sein Satz „Ich will Gott verbrennen"geht hier fast unter. Das letzte stille Bild gehört ganzSamuel Koch als Menuchim, der jetzt als gefeierter Musiker seinen Vater und seine Familie wiederfindet.
„Hiob“ | R: Sandra Strunz | 4.3., 14.3., 20.3., 26.3. 19.30 Uhr – nur Restkarten | Kammerspiele Bonn | 0228 77 80 22
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
Ob Widerstand zwecklos wird
„Jeder stirbt für sich allein“ von Hans Fallada in Bonn – Theater am Rhein 04/18
Kein operativer Eingriff in den BND
„BND – Big Data is waching you“ an den Bonner Kammerspielen – Theater am Rhein 06/17
Liebe oder Kommunismus
„love you, dragonfly“ in Bonn – Theater am Rhein 11/16
Vermessen in der Danger-Zone
Kafkas „Das Schloss“ am Theater Bonn – Theater am Rhein 07/16
Kurz hinter Lessing rechts ab
Die Bürger und ihr „Nathan“ in den Bad Godesberger Kammerspielen – Theater am Rhein 03/16
Verblassen war nie eine Option
Mirja Biel inszeniert modernen „Werther“ an den Bonner Kammerspielen – Theater am Rhein 02/16
Das ewig Böse in uns
„Jenseits von Eden“ in den Bonner Kammerspielen – Theater am Rhein 10/15
Der Künstler, das unbekannte Wesen
Tschechow geschickt trivial in den Bad Godesberger Kammerspielen – Theater am Rhein 10/14
Die Evolution drückt die Reset-Taste
Das Bonner Schauspiel spielt Büchner und Fritz Lang – Auftritt 12/13
Der Bagger fürs Obst
Tschechows „Der Kirschgarten“ in den Bonner Kammerspielen - Theater am Rhein 07/12
Vom Sinn der Nockenwelle
Ulrich Rasche mit Heinrich von Kleists „Michael Kohlhaas“ in Bonn - Theater am Rhein 06/12
Die Beherrschung der Natur
Niklas Ritter inszeniert Brechts „Leben des Galilei“ in Bonn - Theater am Rhein 04/12
Wege in den Untergang
„Arrest“ im NS-Dokumentationszentrum Köln – Theater am Rhein 10/24
Bis der Himmel fällt
Franz Kafkas „Der Bau“ am Theater der Keller – Theater am Rhein 09/24
Feder statt Abrissbirne
„Fem:me“ in der Alten Feuerwache – Theater am Rhein 07/24
Der Untergang
„Liquid“ von Wehr51 – Theater am Rhein 07/24
Gefährlicher Nonsens
Kabarettist Uli Masuth mit „Lügen und andere Wahrheiten“ in Köln – Theater am Rhein 07/24
Den Schmerz besiegen
„Treibgut des Erinnerns“ in Bonn – Theater am Rhein 07/24
Alles über Füchse
„Foxx“ in den Ehrenfeldstudios – Theater am Rhein 07/24
Vergessene Frauen
„Heureka!“ am Casamax Theater – Theater am Rhein 06/24
Freiheitskampf
„Edelweißpiraten“ in der TF – Theater am Rhein 06/24
Menschliche Eitelkeit
„Ein Sommernachtstraum“ in Köln – Theater am Rhein 06/24
Die Grenzen der Freiheit
„Wuthering Heights“ am Theater im Bauturm – Theater am Rhein 06/24
Erschreckend heiter
„Hexe – Heldin – Herrenwitz“ am TiB – Theater am Rhein 05/24
Verspätete Liebe
„Die Legende von Paul und Paula“ in Bonn – Theater am Rhein 05/24