Als sich das Schiff nach Amerika in Bewegung setzt, brechen auf der drehbaren hölzernen Stellage alle Haltepfosten weg. Der alte Jude Mendel Singer kann seine Heimat verlassen, einen Sohn hat er ans russische Militär verloren, einen behinderten Sohn muss er zurücklassen. Aber die grenzenlose Freiheit ruft, sein dritter, bereits geflüchteter Sohn ist in Amerika reich geworden, holt die Familie nach, Mendel Singer hat sich da bereits innerlich gegen seinen Glauben entschieden und fast schon gegen Gott selbst. Aber noch ist sein Martyrium nicht vorüber, trotz Wohlstand und amerikanischem Traum. Fast alttestamentarisch inszeniert der Schweizer Rafael Sanchez in der Kölner Ausweichspielhalle Depot1 „Hiob" nach Joseph Roths Roman. Seine Figuren schweben auf dieser einfachen Stellage, die wie eine hermetische Welt den Rest der großen Halle ausblendet, wer die Plattform verlässt, verlässt nicht nur Heimat und Familie im russischen Schtetl Zuchnow, er verlässt auch das strenge orthodoxe Regelwerk der Altväter, die Prinzipien des Judentums, die der Vater trotz der bitteren Armut hochhält. Regisseur Sanchez verlässt dabei auch den bittersüßen Unterton aus Roths Roman von 1930, ohne dessen Substanz zu verringern, in Köln bilden die brillante Schlichtheit der Inszenierung und die großartige Bühne von Simeon Meier einen visuellen Kokon, in dem der Leidensweg des Thoralehrers eindrucksvoll funktioniert.
Und Mendel Singer (Bruno Cathomas) muss leiden. Von Anfang an: Seine ärmliche Welt mit Frau und vier Kindern beginnt sich langsam aufzulösen. Irgendwie hat die Ehe mit der selbstbewussten Debora (Sabine Orléans) einen merkwürdigen Punkt erreicht, an dem man sich noch schätzt, aber wohl nicht mehr liebt. Sein Sohn Menuchim (Niklas Kohrt) ist Epileptiker, eine ärztliche Behandlung lehnt der gottesfürchtige Singer ab, genau wie den Rat eines Wunderrabbis (alle Nebenrollen: Axel Pape) in der Kreisstadt. Menuchim bleibt schwer gezeichnet, kann nicht sprechen, wird von seinen Geschwistern bis fast zum Tode gequält, sein Vater versucht verzweifelt ihm das Wort Gottes beizubringen. Die Kinder werden erwachsen, die Söhne machen Pläne, um dem strengen Diktat zu entfliehen, seine Tochter Mirjam (Julia Riedler) hat lieber Sex mit allen Kosaken der Garnison. Um sie zu retten, stimmt er dem Aufbruch in die neue Welt zu, lässt dafür sogar Menuchim allein zurück und Jonas beim Militär.
Doch das Leiden geht auch in New York weiter. Mendel Singer sorgt sich um Menuchim, der erste Weltkrieg bricht aus, seine anderen Söhne fallen, die Frau stirbt, Mirjam wird wahnsinnig. Wie in der biblischen Vorlage zerbricht sein Glaube, und nun will er „Gott verbrennen". Auch jetzt noch kann sich Sanchez auf sein ausgezeichnetes Ensemble verlassen, auch jetzt noch bleibt die Inszenierung unaufgeregt stringent, fast atemlos still ist die ganze Halle. Und dann trifft Singer Ostern auf seinen Sohn Menuchim, der ein virtuoser, gefeierter Musiker geworden ist. Da wird dann selbst Werbung für eine neue koffeinhaltige Limonade zur Metapher für die wiedergefundene Gottheit.
„Hiob" | R: Rafael Sanchez | ausverkauft bis März | Schauspiel Köln, Depot 1 | 0221 22 12 84 00
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