Das bodyincrisis-Kollektiv entwickelte gemeinsam mit dem Produzenten Gregor Weber einen Abend für alle Sinne und durchbrach damit Theaterkonventionen. 30 Künstler, 6 Etagen. Zwölf verschlossene Türen- und das Treppenhaus. Auf allen Etagen haben die Gäste die Qual der Wahl, sich für einen Erlebnisraum zu entscheiden. Welcher Miniperformance sie sich die nächsten zehn Minuten hingeben, wird also intuitiv entschieden. Dabei ist jede/r auf sein eigenes Urteil angewiesen, denn Gruppen und Paare, die gemeinsam erschienen sind, wurden schon am Einlass getrennt, indem sie eine andere Laufkarte erhielten. Dort ist die Reihenfolge der zu besuchenden Stockwerke festgelegt. So bleibt jede der 10-minütigen Performances im intimen kleinen Kreis, wirkt persönlich und nah. Und im Nachhinein ist umso mehr Gesprächsstoff vorhanden, da angesichts der 64 verschiedenen Kombinationsmöglichkeiten jede/r einen individuellen Abend erlebt.
Mal genügt es hinter den Türen wieder zum unbeteiligten Zuschauenden zu werden, mal werden die Gäste selbst Teil der Performance oder schlüpfen in Nebenrollen. Bei „K - 134340“ etwa finden sie sich plötzlich in der Rolle von Kunststudierenden, die dazu angehalten sind Zeichnungen von einem Aktmodell anzufertigen, bei „Blind Date“ als Spielball im Tanz und in der Science-Fiction-Romanze „ZEITSchriften 2.0“ als aufgereihte Tinder-Matches wieder. So werden mit den verschiedenen Räumen auch unterschiedliche aktuelle Themen durchschritten. Das Adoptivrecht Homosexueller, die Wohnungsnot in Großstädten, Kritik des westliches Konsumverhaltens... es ist ein wirres Mash-Up, das dadurch so aufregend wird, dass die Teilnehmenden in ständiger, erwartungsvoller Bereitschaft gehalten sind. Alles kann geschehen. Hinter jeder Tür verbringt sich eine weitere Überraschung. Der perfekte Einstieg in die Adventszeit also. Vielleicht findet Room Service deswegen einmal jährlich Ende November statt?
Die theatralen Erlebnisräume, vom Veranstalter auch „Wundertüten“ genannt, schmiegen sich dabei in die Architektur des Kunsthauses Rhenania. Das stillgelegte GEW-Umspannwerk bietet heute eine Ansammlung unterschiedlichster Räumlichkeiten, sie alle haben ihre eigene Atmosphäre und Spannung. Unterm Dach ertönen die schrägen Töne eines Bass- und Trompeten-Konzerts, die unheimliche Psycho-Performance „Schlaf Kindlein Schlaf“ findet in einem Hinterzimmer statt. Auf diese Weise verschmelzen der Ort und das Dargebotene zu einer überzeugenden Einheit in ihrer ganzen Vielfalt. Ob sensorisch, akustisch oder visuell – viele Arten der Berührung sind hier möglich. Nur eines mit Sicherheit nicht: unberührt zu bleiben.
Lediglich der Abschluss ist festgelegt. Ausnahmsweise entscheiden auf Ebene 1 die Darsteller, wo es lang geht. Sanft führen sie die Teilnehmenden auf eine isolierte Raumposition, suggerieren so einen Moment der Einsamkeit inmitten von anderen Menschen. Bis diese Einsamkeit gebrochen, eine Menschenkette gebildet wird. Nur ein paar Herzschläge dauert diese Verbindung an. Dann wartet die Nacht. Und endlich: der Austausch.
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
Um den Verstand gefledert
„CAPTCHA“ im Kunsthaus Rhenania
Unbestimmte Atmosphären
„Parallel2.0“ von Aphe & Noah im Kunsthafen – Kunst 11/20
Schönheit um jeden Preis
Spiegelbergs „Die Schönen und die Genialen“ im Kunsthafen – Bühne 09/20
Ist der Hype vorbei?
Ausstellung „Aufwachen in Istanbul – Istanbul’da Uyaniş“ in der Werft 5 – Kunst 10/17
Kreativer Tabubruch
„In der Regel verschwiegen“ erzählt, tanzt, performt Geschichten zur Periode – Bühne 08/17
Fachgerecht zerstückelt
Dreharbeiten von „Germany Year 2071“ zum Finale der PLURIVERSALE IV im Rheinauhafen – Spezial 06/16
Zwischen Multikulti und Rassismus
„Gegen den Karneval der Kulturen“ – Diskussion im Kunsthaus Rhenania in Köln
Krieg zum Mithören
„Combat Zones That See“ am 3.9. im Kunsthaus Rhenania Pluriversale III – Musik 09/15
Tanz-Herbst-Premieren in Köln
Kölns freie Tanzszene startet in die neue Saison– Tanz in NRW 10/14
Kampf gegen Windmühlen
„Don Quijote“ am Theater Bonn – Prolog 11/24
Keine Macht den Drogen
„35 Tonnen“ am Orangerie Theater – Prolog 10/24
Die Maximen der Angst
Franz Kafkas „Der Bau“ in der Alten Wursterei – Theater am Rhein 10/24
Die ultimative Freiheit: Tod
„Save the Planet – Kill Yourself“ in der Außenspielstätte der TanzFaktur – Theater am Rhein 10/24
Wenn das Leben zur Ware wird
„Hysterikon“ an der Arturo Schauspielschule – Prolog 10/24
Spam, Bots und KI
„Are you human?“ am Theater im Bauturm – Prolog 10/24
Wege in den Untergang
„Arrest“ im NS-Dokumentationszentrum Köln – Theater am Rhein 10/24
Die KI spricht mit
Franz Kafkas „Der Bau“ in der Alten Wursterei in Köln – Prolog 10/24
Diskussion ohne Ende
„216 Millionen“ am Schauspielhaus Bad Godesberg – Auftritt 10/24
„Das Ganze ist ein großes Experiment“
Regisseurin Friederike Blum über „24 Hebel für die Welt“ in Bonn und Köln – Premiere 10/24
Das schöne Wesen aller Dinge
Festival Spielarten 2024 in NRW – Prolog 09/24
Getanzter Privilegiencheck
Flies&Tales zeigen „Criminal Pleasure“ am Orangerie Theater – Prolog 09/24
Die Erfindung der Wahrheit
NN Theater Köln mit „Peer Gynt“ im Friedenspark – Auftritt 09/24
„Wir wollen Rituale kreieren“
Regisseur Daniel Schüßler über „Save the planet – kill yourself“ in Köln – Premiere 09/24
Bis der Himmel fällt
Franz Kafkas „Der Bau“ am Theater der Keller – Theater am Rhein 09/24
Der Witz und das Unheimliche
Franz Kafkas „Der Bau“ am Theater der Keller – Prolog 08/24