„Das Gespenst des Kapitals“: Lieber gleich mal die Bettdecke hochziehen, kein niedlicher Casper, sondern zähnefletschender Dagobert Duck. Ghostbusters-Abhilfe schafft glücklicherweise Joseph Vogl, zwar nicht ganz so bunt wie im Kinderfernsehen, dafür aber mit einem geistes- und sozialwissenschaftlichen Ansatz. In seiner Kapitalismuskritik zerlegt er jeden gedanklichen Bestandteil in kleinste Fetzen, kurz: Sie knüpft an eine poststrukturalistische Analyse an und Freud wäre glücklich.
Der Kapitalismus steht in einer Krise, ja, auch in Zeiten in denen Geschäfte Namen wie „Kauf dich glücklich“ tragen und Burger-Buden „Marx & Engels“ heißen. Kommunismus ist das neue Rot. Hat die Linke also doch immer Recht gehabt mit ihrer Systemkritik. Bei Vogl gibt es allerdings etwas weniger sozialistische Dreieinfältigkeit, dafür etwas mehr Entzauberung des ökonomischen Credos, für welches er den Begriff „Oikodizee“ prägte. Die Begrifflichkeit angelehnt an Theodizee, der Rechtfertigungslehre der Allmacht Gottes, ein von Ökonomen konstruierter Glauben für imaginäre Finanz- und Wirtschaftsallmacht.
Also ein Thema für Finanzgurus und Neu-Wagenknechte? Paperlapap, auch wenn keine unkomplizierte Angelegenheit, trotzdem nicht unwesentlich spannend. Auch für diejenigen, die weder die Biografie von Milton Friedman noch Paul Lafargue gelesen und verinnerlicht haben.
Trotz aller frühlingshaften Schmetterlinge am Wochenende ist die Stadtbibliothek voll, der letzte Stuhl ist immer wieder so schnell belegt, bis keine Stühle mehr aus dem Lager hervorgeholt werden können. Alle wollen dabei sein, wenn Vogl mit Rita Casale und Reinhard Pfriem über die drängenden Fragen der Gegenwart diskutieren. Eine Professorin, deren Forschungsschwerpunkt die poststrukturalistische Philosophie ist, und ein Professor, der sich nachhaltige Unternehmensstrategien und gesellschaftliche Verantwortung von Unternehmen zum Thema macht.
Die Zeiten des rheinischen Kapitalismus sind lange vorbei
Zudem leitet Professor Dr. Smail Rapic so charmant und konfus ein. Als Experte der marxistischen Theorien beginnt er mit einigen Anekdoten, wie, dass Marx Leiter der „Neuen Rheinischen Zeitung“ war, die Verteidigung Marx‘ am Appellhofplatz und seine Freisprechung. „Um aus dem Schlamassel wieder herauskommen, ist es wichtig, zu verstehen, wie wir da rein geraten sind.“ Lehmann-Pleite, Deregulierung der Finanzmärkte, Aufstieg des Rechtspopulismus. Ehe Rapic an Vogl zur Problemerarbeitung übergibt, stellt er klar, dass die beiden Bänder Vogls – „Das Gespenst des Kapitals“ (2010) und „Der Souveränitätseffekt“ (2015) – unerlässlich seien, um sich der Diskussion anzunähern.
Um einen gemeinsamen Fokus für die Diskussion herzustellen, fängt Vogl mit einigen Thesen und Phasen der Krise an. Von der noch zaghaften Immobilienmarktkrise bis hin zur globalen Liquiditätskrise, die zu einer Art Krise des Regierens führte. Um letztlich in der aktuellen Phase anzukommen: einer Befestigung des Systems welches genau in die Krise führte, einer Restaurierung des Finanzsystems mit einer noch stärkeren Kapitalkonzentration. Die Darstellung der Selbstoptimierung des Finanzregimes durch die Krise bringt einige interessante dogmenhistorische, wirtschaftswissenschaftliche Auffälligkeiten mit sich. Der Crash im Jahr 2008 wurde von den meisten Experten und Ökonomen als Epochenbruch wahrgenommen.
Während Vogls Vorrede stehen mal Auffälligkeiten von Rechtfertigungen ökonomischer Prognostik, groteske Argumente von unangefochtenen Autoritäten, Adam Smith und dessen „Wohlstand aus der Ferne“ sowie die Markttheorie als Gottesbeweis im Augenmerk. Die älteren Theorien, Thesen und Argumente, die er vorträgt, verlangen eine Wachsamkeit und Geistesgegenwart, damit sie rationale Denkprozesse nicht ablösen.
Neoliberalismus ist nicht liberal
Moderator Rapic greift zu Beginn der Diskussion den Begriff „Epochenbruch“ auf. Der einzige fach-disziplinäre Ökonom auf dem Podium ist Pfriem und er stellt als erstes klar, dass er kein Finanzwirtschaftler sei. Er nimmt eine Ratlosigkeit durch die Information des „Normalzustands“ wahr: Kritik an den Wirtschaftswissenschaften aus Kreisen außerhalb der Wirtschaftswissenschaften. Auch möchte er sich von der Bezeichnung „Neoliberalismus“ distanzieren: „Es gibt keine Erneuerung des alten Liberalismus, Neoliberalismus ist nicht liberal, ich spreche da eher von einem Marktfundamentalismus.“ Und stimmt Vogl zu, dass es eine religiöse Auffassung sei. Sie sei die Grundlage, um so weiter machen zu können wie bisher. Und das, was in der wirklichen Welt ist, zu verdrängen.
Für Casale bedeutet die Krise des Kapitalismus – etwas platt ausgedrückt – auch eine Chance. Sie sieht in Vogls beiden Werken wissenschaftlich und politisch einen ganz besonderen Verdienst: die Sichtbarmachung des Phänomens, dass die Finanzkrise in einem gewissen Sinne entdramatisiert werde. Dass eine gewisse Dynamik herrsche, die die Konstruktion von bestimmten Dogmen zeige. Rapics Frage zum Epochenbruch möchte sie „umkippen“ und lieber wissen: „Wen betrifft die Krise? Der König ist quasi nackt“, denn die Rationalität der Moderne sei in ihrem Kernelement sichtbar. Casale erkennt zudem essentiell die Problematik, die Krise auf eine reine Finanzkrise zu reduzieren.
Das, was nach 2008 passiert ist, erlebt Vogl als ein Auftauchen einer größeren Schicht von Menschen, die nicht mehr teilhaben, nicht nur am wirtschaftlichen Prozess, sondern auch vom politischen ausgeschlossen sind. „Wie also können Gesellschaften auf Dauer in diesem Ausnahmezustand leben?“, möchte Rapic wissen. Vogl möchte den Begriff des Ausnahmezustands weder überstrapazieren, noch in einem rechtlichen Sinne meinen, sondern auf einer „mikro- und makrologischen Ebene“: Studenten, die in die freie Marktwirtschaft entlassen werden, in der es keine Verlässlichkeit mehr gibt, in der ein wilder Wettbewerb herrscht, werden zu kurzfristig Beschäftigten, die sich ständig das nächste Projekt suchen müssen. Was einen privaten Ausnahmezustand bedeutet. Denn, „wer will schon sein Leben lang im Whirlpool sitzen?“ Die Makroebene verdeutliche, wie das heutige Finanzsystem organisiert sei. Auf internationaler Ebene würden mehr und mehr privatrechtliche Abkommen vereinbart, die nationales Recht überschritten. Und machen sich damit von der öffentlichen Gerichtsbarkeit unabhängig.
Und das Gespenst des Kapitalismus? Unterliegen die Spukerscheinungen nur einer Sinnestäuschung? Pfriem erkennt: „Wir haben es schwerer im 21. Jahrhundert, als es sich die beiden Jungs [Marx und Engels] gedacht haben. Das Ende der Welt ist eher vorstellbar als das Ende des Kapitalismus.“
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