Kinokalender
Mo Di Mi Do Fr Sa So
23 24 25 26 27 28 29
30 31 1 2 3 4 5

12.583 Beiträge zu
3.811 Filmen im Forum

Foto: Thomas Aurin

Letzte Apfelernte im Hüttendorf

29. November 2018

„Ein grüner Junge“ am Schauspiel Köln – Theater am Rhein 12/18

Und ich dachte immer, beamen wäre was für Trekki-Nerds. Und doch sitze ich da und schaue auf die Bühne. Klar, natürlich Frank Castorf – gleich hüpft Sophie Rois herein oder Fabian Hinrichs durchs illuminierte russische Hüttendorf mit Bushaltestelle und Pepsi-Cola-Werbung und – nix da. Denn draußen vor dem Kölner Ersatztheater vergeht das Grün des Urban Gardening, hier drinnen werden die Stunden vergehen wie im Zeitraffer. Der Berliner Volksbühnenheld Frank Castorf schließt in Köln mit „Ein grüner Junge“ seine Dostojewski-Reihe, quasi auf der Durchreise. Ob deshalb im wunderbaren Bühnenbild von Alexander Denic am Rand bereits ein kleiner Серпуховский (Saporoshez) geparkt steht, wird sich erst am Ende zeigen.

Die zähe Kraft der peniblen Genauigkeit erfordert Zeit, Stunden, die viele Zuschauer nicht mehr haben. Klar, zur Premiere, da hofft man noch auf das Gesehenwerden, auf Anerkennung, zwar nicht Rothschild, aber doch wenigstens rheinischer Karnevalsadel geworden zu sein, an meinem Abend (der vierte) da lichten sich die Reihen lange vor der Pause und mein Nachbar stöhnt gequält im Minutentakt. Dabei sind die ersten drei Stunden doch Hopplahé, da staunt man begeistert über die Qualität des Ensembles, da kann man sich kaum sattsehen am russischen Datscha-Diorama, das durch zwei Nebelmaschinen dauerhaft im Nebel liegt.

Die Geschichte stürmt nur so dahin: Das unehelichen Kind Arkadij Dolgorukij (Nikolay Sidorenko) jagt im grünen Anzug seinem undurchsichtigen Vater hinterher, den er zwar treffen, aber nie berühren wird, der immer geile scheinneureiche Selbstbetrüger, der zwischen leicht bekleideten Traumfrauen von der weiblichen Unterordnung träumt, ist vom Untergang bedroht. Wie eigentlich alles in der prickelnden Castorfschen Kapitalismusanalyse auf den Spuren Dostojewskis. Der zweite Dreistünder flieht vor dem riesigen Kinoplakat von „The House of Rothschild“ mit Boris Karloff von 1934 selbst in die Theater-Videothek des wilden St. Petersburg. Endlich dort angekommen wird die Geschichte für Arkadij immer verwirrender zwischen Revolution und Genusssucht. Der Zuschauer kann diese Verwirrung teilen, aber das Ensemble, insbesondere Tipfaine Raffier als Betrügerin Alphonse halten ihn auf Kurs zwischen Flucht und Bleiben. Mein Nachbar war glücklicherweise längst weg. 

„Ein grüner Junge“ | R: Frank Castorf | 5., 29., 30.1. je 18 Uhr | Schauspiel Köln, Depot 1 | 0221 22 12 84 00

PETER ORTMANN

Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.

Neue Kinofilme

Die leisen und die großen Töne

Lesen Sie dazu auch:

Vererbte Traumata
Stück über das Thiaroye-Massaker am Schauspiel Köln – Prolog 12/24

Flucht auf die Titanic
„Muttertier“ am Schauspiel Köln – Prolog 03/24

Parolen in Druckerschwärze
„Die verlorene Ehre der Katharina Blum“ am Schauspiel Köln – Auftritt 03/24

„Es wird ein Kampf um Vormachtstellung propagiert“
Rafael Sanchez inszeniert „Die letzten Männer des Westens“ am Schauspiel Köln – Premiere 03/24

Dunkle Faszination
Franz Kafkas „Der Prozess“ am Schauspiel Köln – Auftritt 02/24

Wiederholungsschleife
„Soko Tatort“ am Schauspiel Köln – Theater am Rhein 02/24

Standbein und Spielbein
Pinar Karabulut und Rafael Sanchez gehen nach Zürich – Theater in NRW 01/24

„Der Roman lässt mich empathisch werden mit einer Mörderin“
Regisseur Bastian Kraft über „Die verlorene Ehre der Katharina Blum“ – Premiere 01/24

Ein Martyrium der Erniedrigung
„Kim Jiyoung, geboren 1982“ am Schauspiel Köln – Auftritt 12/23

Ohne Opfer kein Krimi
„Soko Tatort“ am Schauspiel Köln – Prolog 12/23

Ende der Zivilisation
„Eigentum“ am Schauspiel Köln – Theater am Rhein 11/23

Verliebt, verlobt, verlassen?
„Erstmal für immer“ am Schauspiel Köln – Prolog 10/23

Theater am Rhein.

HINWEIS