„Die Kindheit ist ein Messer in der Kehle – man zieht es nicht so leicht heraus.“ Weil der Schmerz dann noch größer würde? Die Verletzung ein schlimmeres Ausmaß annähme? Man gar verblutete? In jedem Fall ist dieses Bild ein brutales und desillusionierendes; eines, das Stoff zum umfassenderen Nachsinnen über die Wahrheit bietet. Den Satz hat Nawal Marwan (Rebecca Madita Hundt) ihren Kindern hinterlassen. Doch er ist nicht das Härteste, was die 22-jährigen Zwillinge Jeanne (Emilia Haag) und Simon (Patric Welzbacher) bei der Verlesung des letzten Willens ihrer Mutter durch einen Notar zu hören bekommen.
Ohne Sarg, anonym, nackt und mit dem Gesicht nach unten will Nawal beerdigt werden, weil sie ein uneingelöstes Versprechen mit in den Tod nimmt. Ein Stein mit Inschrift dürfe erst auf ihr Grab, wenn die Zwillinge Aufgaben erfüllt haben, die ihnen die Mutter postum aufbürdet: Zwei Briefe sind zu übergeben. Dazu muss Jeanne erst ihren totgeglaubten Vater ausfindig machen und Simon einen unbekannten Bruder. Der wütende junge Mann verweigert sich, seine Schwester, Mathematikerin, geht die unerwünschte Familienforschung an wie ein mit Logik zu lösendes Rätsel. Sie sucht in dem von einem Bürgerkrieg zerrütteten Herkunftsland der Mutter nach Spuren und setzt immer mehr Puzzleteile aus persönlicher, überindividueller und politischer Geschichte zusammen.
Bruchstückhaft ist auch die Form des 2003 in Montreal uraufgeführten Dramas von Wajdi Mouawad. Szenen zwischen einem nur ansatzweise präzisierten Gestern und Heute stoßen aufeinander, spielen teils in Kanada, teils in einem Land des Nahen Ostens, das nicht explizit genannt wird. Der Autor war als Kind mit seiner Familie aus dem Libanon emigriert und trug von dort Erinnerungen an explodierende Busse und andere Schreckensbilder mit sich. Das, was Mouawad in „Incendies“ (der Originaltitel bedeutet auch Feuersbrunst) verarbeitete, könnte sich jedoch überall abspielen, wo Menschen einander im Namen von Glauben und Machtgier die Köpfe einschlagen. Rüdiger Pape übernimmt in seiner Inszenierung des Stückes die französischen und arabischen Namen und bleibt in der geografischen Verortung des Geschehens ähnlich dezent und zugleich universell. Zeitgenössisch westliche Kleidung bekommt bei Bedarf durch flugs gewickelte Tücher einen orientalischen Anstrich, die gelbe Rückwand (Kostüme und Bühne: Flavia Schwedler) lässt an heißen Wüstensand denken.
Auffälligste Requisiten sind mehrere Dutzend Blecheimer, die zu einem Grenzwall oder Berg aus Erinnerungsschutt gehäuft sind und später abgetragen und verteilt werden. Eimer, in denen innerhalb der sich immer tragischer entrollenden Geschichte Neugeborene weggeschafft und aus denen Wasser in Gräber und zur Löschung innerer Brände geschüttet wird. Sehr plastisch ist auch das Garn, das Jeanne zur Klärung der Familienverhältnisse bis ins Publikum spannt, bevor ihre Urgroßmutter in einer Rückblende fordert, den Faden zu zerreißen.
Die alte Frau mahnt, Elend und Hass sei durch das Erlernen von Lesen, Schreiben und Denken zu entkommen. Der Aspekt der Bildung als Prävention gegen Gewalt und Krieg erfährt in der Bauturm-Version eine stärkere Betonung als in der bekanntesten Adaption, Denis Villeneuves 2011 für den Oscar nominierten Film „Die Frau die singt“. Dort traten auch melodramatische Töne mehr in den Vordergrund als unter der Regie Papes. Er lockert die schwere Kost – gerade in den Notar-Szenen mit Alexander Stirnberg manchmal allzu – komödiantisch auf und schafft Distanz, indem er die Schauspieler Regieanweisungen mit- und Dialoge Richtung Publikum sprechen lässt.
Dass man dennoch hineingezogen wird, liegt am fein dosierten mimischen und gestischen Repertoire des Ensembles, aus dem die beiden Frauen herausragen. Emotionen und Atmosphäre werden auch durch die Live-Musik von Raimund Groß und Licht-Stimmungen evoziert. Fast zu abrupt steht nach knapp zwei Stunden die Lösung einer Gleichung im Raum, bei der eins und eins eins ergibt, und tänzelt ein Henker ins Dunkle, den die Wahrheit möglicherweise angesengt, aber nicht in Flammen gesetzt hat.
„Verbrennungen – Die Frau die singt“ | R: Rüdiger Pape | 1., 15., 16., 28.-30.10. je 20 Uhr, 17., 31.10. je 19 Uhr | Theater im Bauturm | 0221 52 42 42
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
Einfach nur hier performen
„Nowhere Man“ am Theater im Bauturm
Spam, Bots und KI
„Are you human?“ am Theater im Bauturm – Prolog 10/24
Die Grenzen der Freiheit
„Wuthering Heights“ am Theater im Bauturm – Theater am Rhein 06/24
Erschreckend heiter
„Hexe – Heldin – Herrenwitz“ am TiB – Theater am Rhein 05/24
Schwarzblühende Bestie
„The Feral Womxn“ am Theater im Bauturm – Theater am Rhein 02/24
Welt ohne Männer
„Bum Bum Bang“ am Theater im Bauturm – Theater am Rhein 12/23
Weiter mit der Show
„Von Käfern und Menschen“ am TiB – Theater am Rhein 11/23
„Mein Bild für den Bauturm ist der Fliegenpilz“
Das Leitungsteam des Theaters im Bauturm zu dessen 40-jährigem Bestehen – Interview 10/23
„Die größte Gefahr liegt in der Vereinzelung“
Deborah Krönung über „Die unendliche Geschichte“ am Theater im Bauturm – Premiere 03/23
Die Ehre, sterben zu dürfen
„Leutnant Gustl“ am Bauturm-Theater – Theater am Rhein 02/23
Radikale Illusion
„Amphitryon“ am Theater im Bauturm – Theater am Rhein 06/22
Was vom Leben übrig bleibt
„Die Frau, die gegen Türen rannte“ am Theater im Bauturm – Theater am Rhein 03/22
Tanzen gegen Rassentrennung
„Hairspray“ am Theater Bonn – Theater am Rhein 11/24
Biografie eines Geistes
„Angriffe auf Anne“ am Theater der Keller – Theater am Rhein 11/24
Selbsterwählte Höllen
„Posthuman Condition“ am FWT – Theater am Rhein 11/24
„Die Hoffnung muss hart erkämpft werden“
Regisseur Sefa Küskü über „In Liebe“ am Orangerie Theater – Premiere 11/24
Kampf gegen Windmühlen
„Don Quijote“ am Theater Bonn – Prolog 11/24
Die ultimative Freiheit: Tod
„Save the Planet – Kill Yourself“ in der Außenspielstätte der TanzFaktur – Theater am Rhein 10/24
Die Maximen der Angst
Franz Kafkas „Der Bau“ in der Alten Wursterei – Theater am Rhein 10/24
Keine Macht den Drogen
„35 Tonnen“ am Orangerie Theater – Prolog 10/24
Wenn das Leben zur Ware wird
„Hysterikon“ an der Arturo Schauspielschule – Prolog 10/24
Wege in den Untergang
„Arrest“ im NS-Dokumentationszentrum Köln – Theater am Rhein 10/24
Die KI spricht mit
Franz Kafkas „Der Bau“ in der Alten Wursterei in Köln – Prolog 10/24
„Das Ganze ist ein großes Experiment“
Regisseurin Friederike Blum über „24 Hebel für die Welt“ in Bonn und Köln – Premiere 10/24