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„Verbrennungen“
Foto:MeyerOriginals

Löscheimer für innere Brände

24. September 2015

Wajdi Mouawads „Verbrennungen“ am Theater im Bauturm – Auftritt 10/15

„Die Kindheit ist ein Messer in der Kehle – man zieht es nicht so leicht heraus.“ Weil der Schmerz dann noch größer würde? Die Verletzung ein schlimmeres Ausmaß annähme? Man gar verblutete? In jedem Fall ist dieses Bild ein brutales und desillusionierendes; eines, das Stoff zum umfassenderen Nachsinnen über die Wahrheit bietet. Den Satz hat Nawal Marwan (Rebecca Madita Hundt) ihren Kindern hinterlassen. Doch er ist nicht das Härteste, was die 22-jährigen Zwillinge Jeanne (Emilia Haag) und Simon (Patric Welzbacher) bei der Verlesung des letzten Willens ihrer Mutter durch einen Notar zu hören bekommen.

Ohne Sarg, anonym, nackt und mit dem Gesicht nach unten will Nawal beerdigt werden, weil sie ein uneingelöstes Versprechen mit in den Tod nimmt. Ein Stein mit Inschrift dürfe erst auf ihr Grab, wenn die Zwillinge Aufgaben erfüllt haben, die ihnen die Mutter postum aufbürdet: Zwei Briefe sind zu übergeben. Dazu muss Jeanne erst ihren totgeglaubten Vater ausfindig machen und Simon einen unbekannten Bruder. Der wütende junge Mann verweigert sich, seine Schwester, Mathematikerin, geht die unerwünschte Familienforschung an wie ein mit Logik zu lösendes Rätsel. Sie sucht in dem von einem Bürgerkrieg zerrütteten Herkunftsland der Mutter nach Spuren und setzt immer mehr Puzzleteile aus persönlicher, überindividueller und politischer Geschichte zusammen.

Bruchstückhaft ist auch die Form des 2003 in Montreal uraufgeführten Dramas von Wajdi Mouawad. Szenen zwischen einem nur ansatzweise präzisierten Gestern und Heute stoßen aufeinander, spielen teils in Kanada, teils in einem Land des Nahen Ostens, das nicht explizit genannt wird. Der Autor war als Kind mit seiner Familie aus dem Libanon emigriert und trug von dort Erinnerungen an explodierende Busse und andere Schreckensbilder mit sich. Das, was Mouawad in „Incendies“ (der Originaltitel bedeutet auch Feuersbrunst) verarbeitete, könnte sich jedoch überall abspielen, wo Menschen einander im Namen von Glauben und Machtgier die Köpfe einschlagen. Rüdiger Pape übernimmt in seiner Inszenierung des Stückes die französischen und arabischen Namen und bleibt in der geografischen Verortung des Geschehens ähnlich dezent und zugleich universell. Zeitgenössisch westliche Kleidung bekommt bei Bedarf durch flugs gewickelte Tücher einen orientalischen Anstrich, die gelbe Rückwand (Kostüme und Bühne: Flavia Schwedler) lässt an heißen Wüstensand denken.

Auffälligste Requisiten sind mehrere Dutzend Blecheimer, die zu einem Grenzwall oder Berg aus Erinnerungsschutt gehäuft sind und später abgetragen und verteilt werden. Eimer, in denen innerhalb der sich immer tragischer entrollenden Geschichte Neugeborene weggeschafft und aus denen Wasser in Gräber und zur Löschung innerer Brände geschüttet wird. Sehr plastisch ist auch das Garn, das Jeanne zur Klärung der Familienverhältnisse bis ins Publikum spannt, bevor ihre Urgroßmutter in einer Rückblende fordert, den Faden zu zerreißen.

Die alte Frau mahnt, Elend und Hass sei durch das Erlernen von Lesen, Schreiben und Denken zu entkommen. Der Aspekt der Bildung als Prävention gegen Gewalt und Krieg erfährt in der Bauturm-Version eine stärkere Betonung als in der bekanntesten Adaption, Denis Villeneuves 2011 für den Oscar nominierten Film „Die Frau die singt“. Dort traten auch melodramatische Töne mehr in den Vordergrund als unter der Regie Papes. Er lockert die schwere Kost – gerade in den Notar-Szenen mit Alexander Stirnberg manchmal allzu – komödiantisch auf und schafft Distanz, indem er die Schauspieler Regieanweisungen mit- und Dialoge Richtung Publikum sprechen lässt.

Dass man dennoch hineingezogen wird, liegt am fein dosierten mimischen und gestischen Repertoire des Ensembles, aus dem die beiden Frauen herausragen. Emotionen und Atmosphäre werden auch durch die Live-Musik von Raimund Groß und Licht-Stimmungen evoziert. Fast zu abrupt steht nach knapp zwei Stunden die Lösung einer Gleichung im Raum, bei der eins und eins eins ergibt, und tänzelt ein Henker ins Dunkle, den die Wahrheit möglicherweise angesengt, aber nicht in Flammen gesetzt hat.

„Verbrennungen – Die Frau die singt“ | R: Rüdiger Pape | 1., 15., 16., 28.-30.10. je 20 Uhr, 17., 31.10. je 19 Uhr | Theater im Bauturm | 0221 52 42 42

Jessica Düster

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