„Datenschutz kann einem egal sein, wenn man nichts zu verbergen hat. Das ist genauso wie das Argument, dass man kein Recht auf freie Meinungsäußerung braucht, weil man nichts zu sagen hat.“ So formuliert es Edward Snowden, wenn er in Interviews gefragt wird, warum das Recht auf Privatsphäre überhaupt so wichtig sei.
In der Tat ist es bequem, die kostenlosen Dienste, die Facebook, Google und Co uns so freundlich zur Verfügung stellen, einfach zu nutzen. Ohne ständig darüber nachzudenken, ob und wie die preisgegebenen Daten verwendet werden. Sollen sie doch ruhig wissen, wo ich mich aufhalte, mit wem ich befreundet bin und welche Hobbys ich habe. So spannend ist das nicht. Oder?
Doch. Es ist sogar sehr spannend. Unternehmen, die auf Daten von möglichst vielen Menschen zugreifen können, haben einen Wettbewerbsvorteil. Eine Studie, die im Auftrag der österreichischen Bundeskammer vom Forschungsinstitut CrackedLabs durchgeführt wurde, hat im November 2014 veröffentlicht, wie persönliche Daten bereits kommerziell genutzt werden. So lassen Facebook-Likes genaue Rückschlüsse auf Herkunft, Religion, Alkoholkonsum, politische oder sexuelle Orientierung zu. Die Häufigkeit und Länge von Telefonaten können in Charaktereigenschaften umgerechnet werden. Und je nachdem, wie schnell und in welchem Rhythmus jemand tippt, kann man erkennen, ob die Person gerade nervös, traurig, müde oder zuversichtlich ist.
Diese und weitere Erkenntnisse lassen sich zu einem persönlichen Profil verknüpfen und kommerziell verwerten. So fließen bei manchen Unternehmen die Informationen aus sozialen Netzwerken in die Beurteilung der Kreditwürdigkeit ein. Eine US-Versicherung nutzt Daten über das Konsumverhalten zur Abschätzung von möglichen zukünftigen Krankheiten und berechnet daraus eine personalisierte Prämie. Auch die benutzte Hard- und Software kann entscheidend sein. Je nach Gerät und Browser zeigen manche Onlineshops für das gleiche Produkt einen bis zu 166 Prozent höheren Preis an. Die Liste ließe sich weiter fortsetzen und zeigt, wie groß der Einfluss von Big Data bereits ist – gerade weil man nichts zu verbergen hat. Die entscheidenden Fragen lauten daher: Stört mich das? Und wenn ja: Was kann ich dagegen tun?
Dass die Datensammlung und -auswertung in nächster Zeit politisch beschränkt wird, ist unwahrscheinlich. Die Vorratsdatenspeicherung soll in Deutschland wieder eingeführt werden. Ob die verdachtsunabhängige Speicherung von Verbindungsdaten allerdings bei der Verbrechensbekämpfung hilft, ist fraglich. Daher sind neben Datenschützern auch viele Bürger skeptisch. In einer Umfrage beim Kölner Projekt „Supernerds“, das sich im Mai 2015 mit dem Einfluss von Big Data auf das alltägliche Leben beschäftigte, gaben 97 Prozent der Befragten an, ihre persönlichen Daten nicht für mehr Sicherheit preisgeben zu wollen.
Dennoch sind die meisten von uns im Alltag sehr freigiebig. In Mails verschicken wir Rechnungen und persönlichste Gedanken, die wir niemals auf eine Postkarte schreiben würden, obwohl eine Mail ähnlich öffentlich durchs Netz geschickt wird. Vom Smartphone lassen wir ein Bewegungsprofil erstellen, das nicht nur permanent aufzeichnet, wo wir uns aufhalten, sondern auch sehr verlässliche Hochrechnungen zulässt, wo wir nächste Woche wann sein werden. Und durch unser Verhalten in sozialen Netzwerken weiß der Werbepartner vermutlich früher, dass wir schwanger sind, als die beste Freundin.
Die Zuschauer bei den „Supernerds“ haben durch interaktive Aktionen am eigenen Leib erfahren, was es bedeutet, unter ständiger Beobachtung zu stehen. Die meisten von uns tun das zwar auch – merken aber nicht viel davon. Wer sich jedoch bewusst macht, was in der digitalen Welt passiert, stellt schnell fest: Der Gedanke, dass mir ständig jemand über die Schulter schaut, meine Aktivitäten aufzeichnet und daraus Entscheidungen für mein Leben ableitet, ist unangenehm. Vor allem wenn der Blick weder Ausnahmen noch Ironie oder Humor kennt.
Möglichkeiten des Gegensteuerns gibt es viele. Manche sind nicht einmal umständlich. Einige kosten etwas mehr Zeit oder Geld. Auf längere Sicht betrachtet sind sie aber wahrscheinlich die günstigere Variante, da es kaum etwas Wertvolleres in unserem bequemen demokratischen Leben gibt als unsere Persönlichkeitsrechte.
Edward Snowden hat seinen Job, seine Freiheit und das Leben mit seinen Liebsten aufs Spiel gesetzt, um die Welt über die Machenschaften der US-Geheimdienste aufzuklären. Er wusste, was ihm blüht und hat es aus Überzeugung trotzdem getan. Wir wissen nun, dass die Welt, in der wir leben, nicht so frei ist wie wir lange dachten. Doch zumindest in Deutschland ist sie demokratisch genug, dass jede/r Einzelne etwas dagegen tun kann. Wenn es uns nicht zu aufwendig erscheint.
Aktiv im Thema
www.supernerds.tv | www.whistleblower-net.de | www.wikileaks.org
www.crackedlabs.org Österr. Institut, forscht zur Verwertung persönlicher Daten
www.bpb.de/dialog/netzdebatte/202219/vorratsdatenspeicherung
Lesen Sie weitere Artikel
zum Thema auch unter: trailer-ruhr.de/thema und engels-kultur.de/thema
WELTENKINDER – Was bedeutet Kindsein heute? (Thema im September)
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