choices: Herr Heuel, der neue Abend des fringe ensemble bringt unter dem Titel „Finnland“ Stücke von vier verschiedenen Autoren zur Uraufführung. Was verbindet diese Stücke?
Frank Heuel: Die Stücke verbindet eine Familiengeschichte, die real so passiert ist und uns von einem Mitglied dieser Familie unter Wahrung der Anonymität zur Verfügung gestellt worden ist. Wir haben die Autoren Lothar Kittstein, Andreas Vonder, Ivo Briedis und Jens-Martin Eriksen für vier Tage in Münster zusammengebracht. Sie haben sich dann gemeinsam Arbeitsregeln für das Schreiben ihrer Stücke aufgestellt.
Welche Arbeitsregeln waren das?
Es wurde festgelegt, dass die Länge der Stücke bei 25 bis 30 Minuten liegen sollte, wobei sich Andreas Vonder nicht ganz dran gehalten hat. Jeder Autor sollte sich auf eine Figur konzentrieren und nur aus der Sympathie für diese Figur schreiben. Die Form der Stücke war frei, ob das nun dialogische Texte oder Textflächen sind. Und die Autoren haben verabredet, nach Münster keinen Kontakt untereinander aufzunehmen und sich erst bei der Premiere wiederzusehen.
Um was geht es in der Geschichte?
In den Wirren des zweiten Weltkriegs flüchtet, Sabine, eine junge deutsche Frau nach Finnland. Sie lebt mit einem Mann zusammen, bekommt eine Tochter, Lena, und kehrt mit ihr 1947/48 wieder nach Deutschland zurück. Hier heiratet sie einen Deutschen, bei uns Günther genannt, mit dem sie zwei weitere Kinder hat, Rolf und Michael. Über Jahre missbraucht Günther seine Stieftochter und zeugt mit ihr ein weiteres Kind, Nina, das zur Adoption frei gegeben wird. Nach der Geburt geht der Missbrauch weiter. Schließlich wehrt sich Lena gegen die Übergriffe und verletzt Günther so schwer, dass er im Krankenhaus stirbt. Dieser Mord oder Totschlag wird vertuscht, Lena, Rolf und Michael werden danach zur Adoption freigegeben. Die Familie ist komplett zerstreut, bis Nina zu ihrem Onkel bzw. Halbbruder Michael Kontakt aufnimmt und die beiden die Familiengeschichte aufrollen.
Wie sind Sie auf die Geschichte gestoßen?
Die Person, die in der Geschichte Michael heißt, ist ein alter Freund von mir aus Schulzeiten. Bei einem Treffen im letzten Jahr hat er mir - nachdem wir uns sehr lange nicht gesehen hatten - seine Familiengeschichte erzählt. Die Nina der Geschichte hatte sich gerade ein halbes Jahr vorher bei ihm gemeldet. Ich habe ihn dann gefragt, ob ich dieses Familientrauma in seinen Eckdaten und anonymisiert verwenden darf. Das hat er mir erlaubt und mir noch weitere Details erzählt.
Hat sich Michael mit den Autoren getroffen?
Nein, das wollte er nicht. Ich habe ihm vorher die eingedampfte Version, die wir den Autoren zur Verfügung gestellt haben, gezeigt. Er kennt auch die Version mit der Anonymisierung der Familien- und Städtenamen.
Warum vier Autoren? Wie lässt sich da die Kohärenz der Geschichte bewahren?
Das fringe ensemble hat sich schon immer mit der Multiperspektivität von Geschichten beschäftigt. An „Finnland“ hat mich interessiert, wie der Blick aus unterschiedlichen Nationen auf diese deutsche, im Exemplarischen aber weit darüber hinausreichende Geschichte ausfällt. Schon die Parteinahme für die einzelnen Figuren ergibt völlig unterschiedliche Perspektiven. Dann haben sich die Autoren verschiedene zentrale Ereignisse dieses Familientraumas ausgewählt. Lothar Kittstein zum Beispiel beschreibt die Ereignisse aus der Perspektive des jungen und des alten Rolf. Jens-Martin Eriksen hat sich sehr um die Mutter gekümmert. Trotzdem müssen wir den Zuschauern vorher die Geschichte zur Verfügung stellen, sonst erschließt sich der Abend nur schwer. Es muss klar sein, dass die in den Stücken auftauchenden Figuren immer wieder dieselben realen Figuren sind.
Welche Möglichkeiten eröffnet das Ihnen als Regisseur?
Ich bin durch die verschiedenen Stück-Perspektiven in der Wahl der Form frei. Inwieweit wir dann daraus eine Einheit machen werden, das muss man sehen. Insbesondere das Stück von Andreas Vonder, das mit einer Familienaufstellung operiert und mit dem Theater als solchem spielt, wird stilistisch eine völlig andere Form haben als die drei anderen, die sehr stark bei den Figuren sind und mit der Zeit arbeiten. Eriksen und Kittstein zeigen ihre Figuren in verschiedenen Alterstufen. Der lettische Autor Ivo Briedis arbeitet wiederum fast filmisch. Die Frage des Raums wird entscheidend sein, wir wollen keine unterschiedlichen Spielorte, sondern eine Grundsituation, in der das Publikum die vier Teile erleben kann.
Noch zwei Fragen zur Bonner Kulturpolitik: Was bedeuten die Kürzungsbeschlüsse des Bonner Rates für das fringe ensembles?
Wir hatten Gespräche mit den kulturpolitischen Sprechern der Parteien und dem Kulturdezernent, dass vorerst keine Kürzungen auf uns zukommen. Es werden in Bonn jetzt runde Tische für die einzelnen Sparten gebildet, die unter Moderation des Kulturamts über das zu erarbeitende Kulturkonzept sprechen sollen.
Sind Sie optimistisch?
Nein. Man muss das Anliegen zwar mit einem Vertrauensvorschuss bedenken, muss aber trotzdem sehr wachsam sein, dass daraus keine Alibigeschichte wird. Generell ist die Bonner Situation einerseits desaströs, andererseits liegt in Klaus Weises Verzicht auf eine Verlängerung seiner Intendanz am Theater Bonn auch eine Chance, den darstellenden Bereich neu aufzustellen. Das fringe ensemble hat zwar mehrere Produktionen gemeinsam mit dem Schauspiel Bonn realisiert, mir geht es aber um Kooperationen struktureller Art. Also was passiert mit der Halle Beuel? Was passiert mit den Kammerspielen? Wie lässt sich das Manko einer zentralen Spielstätte des Schauspiels in der Stadt lösen. Das sind Fragen, die man jetzt angehen könnte. Da erhoffe ich mir, dass bei der Berufung der neuen Leitung gut überlegt wird. Dann könnten auch die Freie Szene und die ganze Theaterlandschaft in Bonn davon profitieren.
„Finnland. Eine Familiengeschichte“ von Ivo Briedis, Jens-Martin Eriksen, Lothar Kittstein und Andreas Vonder I R: Frank Heuel I Theater im Ballsaal Bonn I Fr 23.9. (P), So 24.9., 28.-30.9., je 20 Uhr I 0228 79 79 01
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