Sie hocken in ihrer suburbanen Hölle, die Pizzakartons türmen sich, der Alk fließt und für eine neue Line ist immer Zeit. Phaedra (Benny Claessens) vertreibt sich mit ihrer Freundin Peggy beziehungsweise Oenone (Lola Klamroth) die Zeit, während ihr Mann Theseus den Vietcong massakriert. Was sollen sie auch machen, diese „Vorstadtweiber“ in ihren knallbunten Eigenheimen mit PKW-Stellplatz für lustige Tretautos. Der Himmel strahlt knatschblau und ist mit Wölkchen übersät, und zwischen ihnen hängt eine Sprechblase, auf die das Innenleben der Häuser projiziert wird. Eine Welt, die sich selbst als ihr eigener Comic-Mythos inszeniert.
Regisseur Ersan Mondtag, der sein eigener Bühnenbildner ist, inszeniert „Phaedra“ und verlagert im Kölner Schauspiel den Mythos schlankweg in die späten US-Sixties. Stilisierte, aber antikisierte Sechziger: alle Darsteller:innen tragen Halbmasken, die Kostüme sind ausgesteift. Wobei die Dekonstruktion der Regie nicht nur die Autoren Seneca und Racine trifft, sondern den Bearbeiter Thomas Jonigk gleich mit. Der hat seine „Überschreibung“ zur Theater-Reflektion gemacht, die den Zeitgeist akribisch abarbeitet: Fragen theatral-markierter Geschlechtlichkeit, das Othering der Hauptfigur, die Emotionalisierungszwänge, die Einführung einer Chronik-Figur (Margot Gödrös) mit Wikipedia-Funktion und so weiter. Die Regie spielt das radikal beiseite oder streicht es komplett.
Schon die Besetzung der Hauptfigur unterläuft viele der kommentierenden Texte; Benny Claessens stattet seine Phaedra mit einer gewaltigen (auch historisch zu verstehenden) Unruhe aus, einer Lebensgier, aber auch mit Narzissmus und einem offenen Rassismus. Dass die mythologische Figur ihren Stiefsohn Hippolytos rasend liebt und seine Zurückweisung mit der Denunziation als übergriffigen Gewalttäter bei seinem Vater bestraft, bleibt hier eher ein dramaturgisch-funktionsloser Wurmfortsatz. Nicht nur teilen sich Phaedra und Peggy/Oenone einen Callboy fürs vorstädtische Lustmanagement. Yvonne Janson gibt zudem den Hippolytos als tumben „good american Guy“, der zwar mit der romantisch-kitschigen Aricia (Kristin Steffen) kurz Sofa-Sex hat, sich aber doch mehr für Gartengrill- und -partys interessiert. Auch bei seinem Vater Theseus (Benjamin Höppner) ist Sex kaum mehr als Triebabfuhr. Er zieht als vermeintlicher Held mit Stars-and-Stripes-Flagge durch die Straße, hat sich als Kriegsbeute einen Vietcong namens Peirithoos (Kei Muramoto) fürs Opiumrauchen, fürs Bett und für rassistische Ausfälle mitgebracht – und sucht ansonsten hilflos nach einem Vorkriegsleben.
Ersan Mondtags Schachzug besteht darin, den Phaedra-Mythos nicht zu aktualisieren, sondern ihn in die US-Sixties zu verlagern und diese Sechziger selbst als Mythos zu verstehen. Ganz geht das allerdings nicht auf, schon die Frage, für wen die US-Sixties überhaupt heute Mythos seien, bleibt offen. Und als Kriegs-Bashing taugt der Verweis nicht wirklich. Am Ende allerdings schreitet Phaedra in bester tarantinesker Manier zum Massaker und wiederholt was ihr Mann in Vietnam vollbracht hat zuhause in der amerikanischen Vorstadt.
Phaedra | R: Ersan Mondtag | Schauspiel Köln | Di 17.1. 19.30 Uhr | 0221 22 12 84 00
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