Draußen tobt die Barbarei, drinnen zersetzt sich die alte Welt. Andrea Breth inszeniert am Düsseldorfer Schauspielhaus „Marija“ von Isaak Babel, ein Gesellschaftspanorama aus dem revolutionären Petrograd des Jahres 1920. Die Inszenierung zeigt acht Bilder, acht Stationen auf dem Weg von Menschen in die Depression oder in eine neue Welt. Dissonante Töne begleiten den Umbau der Bilder auf der Bühne, lassen den Zuschauer aber auch kurz das zuletzt Gesehene reflektieren, Atem schöpfen für das nächste der dramatischen Sezierachtel. Breth zeigt eine historische Kostümorgie, deren Einzelteile eigens für die Aufführung nach Fotos und Filmen aus der Zeit geschneidert wurden. Die Szenen gleichen in Bewegung versetzten Ölschinken, deren sekundenlanges Erstarren nach dem Hochfahren des Vorhanges oder dem Ende der dem Film entlehnten Schwarzblende das Puppenhafte ziemlich verstärkt.
Herausgeklaubt wie aus Formalingläsern geht dann das 22köpfige Ensemble auf eine Zeitreise in die Nachwehen der russischen Revolution, als die Bissen von den fast leeren Tafeln nicht nur dem Publikum im Halse stecken bleiben. In optisch kulinarischen Bildern erzählt der zweistündige Abend die revolutionären Vorkommnisse anhand der Familie des ehemals zaristischen Generals Mukownin.
Sie sind durch die Oktoberrevolution zu Außenseitern der Gesellschaft geworden, deren Niedergang nicht mehr aufzuhalten ist. Die zwei Töchter leben in unterschiedlichen Welten, umkreisen den Vater in entgegengesetzten konzentrischen Bahnen. Ludmilla versucht sich mit einem jüdischen Geschäftemacher, eine Liaison, die sie aber letztlich in den Abgrund zieht. Die älteste Tochter Marija hat sich mit Haut und Haaren der Revolution verschrieben, weilt an der russisch-polnischen Front. Sie taucht in dem Stück nie auf der Bühne auf, ist aber in der Familie des Generals in fast allen Gesprächen immanent vorhanden. Der kranke Mukownin kann sich den neuen Verhältnissen nicht mehr anpassen, harrt auf die Rückkehr von Marija. Als die nur Lebensmittel schickt und ihm klar wird, dass sie nie mehr zurückkommen wird, fällt er tot um. Isaak Babel, Sohn eines jüdischen Kaufmanns, zeigt mit den Menschen in Zeiten der gesellschaftlichen Umwälzung auch die Ergebnisse radikal und schonungslos. Alle müssen sich neu orientieren, werden alles verlieren oder zu Gewinnern werden. Und das ist kein Leben, das wirklich erstrebenswert sein könnte. Erst 1936 beschrieb Babel diese Zeit, die er selbst als Soldat an der Front miterlebt hat, und deren Verwerfungen ihn vier Jahre später das Leben kosten.
Doch was ist das Resümee dieser hyperperfekten Inszenierung? Dass am Ende eine schwangere Proletarierin im umgewidmeten Mutter-Kind-Palast an der Moika entbinden darf? Dass sie in die große Wohnung zieht, die einst der ehemalige General Mukownin bewohnt hat? Dass zu Marschmusik auf den Straßen eine junge Rotarmistin – vielleicht endlich Marija – durchs Zimmer gesprungen kommt? Diese verbal-kunstvoll auf die heutige Zeit zu projizieren, reicht nicht aus. Das alles gehört schön wieder da hin, wo es hergekommen ist. In die Formalingläser der Geschichte.
„Marija“ I Sa 11.2., 19.30 Uhr I Düsseldorfer Schauspielhaus I 0211 36 99 11
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