Richard Siegal und das Ballet of Difference sind wieder in der Stadt – mit „Roughhouse“, einer Crossover-Produktion aus Tanz, Ballett und Schauspiel. Der US-Amerikaner, der zuletzt die Oper „Mass“ in Gelsenkirchen in Szene setzte, ist bekannt für seine provokanten und genreübergreifenden Inszenierungen, die sich mit normativen Strukturen in unserer Gesellschaft auseinandersetzen. In seinen Stücken stehen immerfort Fragilität und Unmittelbarkeit des Physischen und die Grenzen der Sprache im Vordergrund. In seiner Produktion „On Body“ von 2018 schaffte der Körper einen intimen Raum zwischen Thema, Künstler und Inszenierungssprache – irgendwo zwischen kulturellem Coding, einer realen und digitalen Identität. „Roughhouse“ nimmt eine ähnliche Perspektive ein und greift das Phänomen der Netzkultur auf – im Gegensatz zu den bisherigen Stücken jedoch mit einem umfangreicheren Text.
Und so beginnt der Abend mit einer Meldung, dass sich ein Computervirus eingehackt habe. Die Anfangsszene ist ein erster Vorgeschmack und lässt vermuten, dass sich irgendeine Form von Fehler oder Fehlprogrammierung aufzeigen wird.
Wer bin ich und was macht mich dazu?
Gleich zu Beginn fragt Yuri Englert improvisatorisch ins Publikum, wo man denn wohl gerne wohnen wollen würde. Ja, wo möchtest du hin? Was würdest du gerne sein, wenn du es dir aussuchen könntest? Sarkastisch angehaucht weist Englert darauf hin, dass das Stück mal zwischen der deutschen und der englischen Sprache wechseln wird – inklusive Untertiteln. Es mag daran liegen, dass Englisch Lingua franca ist und Kommunikation und Identifikation ermöglicht. Doch daran scheitert es an dem Abend: Jeder versteht etwas anderes. Es werden Themen wie Rassismus, Gender, Political correctness, Click-Farming und das Phänomen der Outrage culture aufgegriffen, die sich im Internet zuspitzen, ohne eine wirkliche Plattform der Auseinandersetzung zu erhalten. Einen erzählerischen roten Faden gibt es deshalb nicht, vielmehr führt ein Thema, eine Gefühlsregung in die nächste. Der Titel „Roughhouse“ ist eine Anspielung auf „roughhousing“, eine Art spielerisches Kämpfen unter Kindern.
„You are nothing“
Die vier Schauspieler*innen aus dem Kölner Ensemble und vier Tänzer*innen des Ballet of Difference suchen nach ihrer Identität, wie ein Kind im Laufe seiner Sozialisation. Dabei geht es um Dekonstruktion – Macht und Unterwerfung, Stärke und Schwäche, Überforderung von Seele und Körper. Die Sprache hat hier jedoch so ihre Grenzen, Schnittstelle ist eher der Körper, der weniger auf die Semantik als auf die Mechanik der Sprache und des Ausdrucks verweist. Und der ist radikal, rebellisch. Sie schreien, posieren, versuchen Aufmerksamkeit auf sich und ihre Botschaften zu ziehen, ohne ernste Plattform. Und immer dann, wenn es am sprachlichen Ausdruck scheitert, setzen tänzerische Elemente und körperliche Ausdrucksformen ein. So spielt Nicola Gründel ein Karategirl und Marlene Goksch brüllt und gestikuliert fast wie besessen auf einer Mattenburg, auf der sie nicht ganz textsicher aus der Orestie rezitiert.
Das Bühnenbild (Jens Kilian, Richard Siegal) erinnert an eine Installation, die Figuren sind Teil eines multimedialen Zirkus aus Kameras und Mikrofonen, Leinwänden und Bildschirmen, werden aufgenommen, stellen sich dar, senden medial verstärkte Nachrichten aneinander und ans Publikum. Die Outfits (Flora Miranda) der neun Darsteller sind alles andere als Ballett-konform. Mal militärisch, mal freizügig muskulös, in eng gefassten neonfarbenen Ganzkörperanzügen, ohne dabei sportlich, übermuskulös und aufdringlich zu wirken.
Politische Farce
Im Web bleiben Auseinandersetzungen oftmals an der Oberfläche. Vieles bleibt Selbstdarstellung und ohne wirkliche Kohärenz. Einer fragt: „What are you? A person of colour?“ – Irgendwer antwortet mit: „It doesn’t matter – speaking as a woman of color, I find this beyond offensive.“ Dabei stammt die Aussage nicht einmal von Courtney Henry, der einzigen Woman of color im Ensemble. Courtney Henry sei dafür „colorblind“ und sehe alles in „shades of grey“ oder auch mal in „shades of orange“. Und zack – Tabwechsel. Als nächstes wird rege diskutiert, sogar dringlichst empfohlen, das böse Wort „Klitoris“ besser nicht öffentlich zu gebrauchen. Aber nicht ohne Gegenrebellion und einer gehörigen Portion Humor: „Let’s otherize the fuck out of this otherfucker.“
So konfus wie das Innenleben der Charaktere und der Versuch jeglichen Ausdrucks, so sprunghaft geht es auch zwischen den einzelnen Szenen zu. Plötzlich ist man im nächsten Impuls. Die aus Papier bestehende (Lein-)Wand wird deshalb auch immer wieder eingerannt. Selbst der Garderobenwechsel wird dafür genutzt, um Wörter in rasender Schnelle, untermauert von elektronischer Musik und regem Lichtspiel, auf einem Banner einzublenden. Reizüberflutung pur. Doch trotz Sinnkrise und Verwirrung lässt sich eine Verbundenheit untereinander spüren.
Indem Siegal das Konforme offensiv torpediert, entsteht ein Raum, um sich der Absurdität hinzugeben und eine gewisse Authentizität darin zu entdecken. Sinnsuchende Subjekte, sinnzerstörerische Dialoge, untermauert mit ausdrucksstarkem Tanz und ästhetischen Perspektiven: Siegals Tanzdrama trifft den Zeitgeist des 21. Jahrhunderts. „Roughhouse“ ist vielleicht nicht jedermanns Geschmack. Doch ist es eine Form der Auseinandersetzung mit der Postmoderne, wie sie nun mal ist – schnell und konfus. Wenn man sich darauf einlässt, zeigt die Aufführung eine überzeugende Möglichkeit, sich mit der Gegenwart auseinanderzusetzen.
„Roughhouse“ | R: Richard Siegal | 12. - 14.2. 19.30 Uhr | Schauspiel Köln: Depot 1 | 0221 221 284 00
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