In der Erwachsenenbildung ist die „lebendige Statistik“ ein gern genutztes Mittel. Benannt werden dabei Kriterien, nach denen sich die Seminarteilnehmer im Raum verteilen – zum Beispiel: Alle Rheinländer nach links. Welche Kollateralschäden auftreten, wenn diese Methode als choreografisches Prinzip für eine Bühnenproduktion genutzt wird, war im Schauspielhaus zu besichtigen: Das Theatrale bleibt auf der Strecke. An herkömmlichen Formen war Rimini Protokoll zwar noch nie gelegen, doch in diesem Fall sind Helgard Haug, Stefan Kaegi und Daniel Wetzel der vermeintlichen Aussagekraft von Zahlen auf den Leim gegangen. Anders als in ihren bisherigen dokumentarischen Inszenierungen wird die Komplexität der Wirklichkeit nämlich nicht abgebildet, sondern durch quantitative Vereinfachung unterschritten.
„100 Prozent Köln“ basiert auf Daten des Amtes für Stadtentwicklung und Statistik der Stadt Köln. Rimini Protokoll gibt den Zahlen Gesichter. In einer Kettenreaktion wurden Menschen ausgewählt, die bestimmte Merkmale erfüllen mussten – solange bis auf der Bühne 100 Kölnerinnen und Kölner stehen, die jeweils 10.000 andere Menschen repräsentieren.
Diese Hundertschaft macht sich durch Selbstbefragung zum demoskopischen Material und formiert sich zu Punktwolken, Tortendiagrammen, Kolonnen und Kurven. Auf der Bühne liegt ein riesiger grüner Teppich, der sein Pendant in einer Art Spiegel findet, auf den Bilder der lebenden Zahlen projiziert werden. Kameras fangen mal das grafische Gebilde ein, mal zeigen sie das Individuum. Denn jeder der Hundert stellt sich persönlich vor. Das dauert entsprechend lange, ist aber durchaus amüsant. Wir lernen kennen: Zeitungsleser, Rheinpendler, Dialektsprecher, Studenten, Rentner und Rentnerinnen, die Formel-Eins-Rennen lieben, Alleinerziehende, Familienväter. Und natürlich ein paar ganz reizende Kinder und einen Hund.
Forschungsdesign ohne erzählerisches Herz
Später dann werden Einstellungen und Verhaltensweisen abgefragt. Das Erhebungsdesign aber, quasi die Anlage des Fragebogens, wirkt additiv und willkürlich. Es fehlt ein konkretes erkenntnisleitendes Interesse. Anders ausgedrückt: Was will Rimini Protokoll eigentlich erzählen? Und: Sind die Kölner signifikant anders als die Menschen im Rest der Republik? Unbeantwortet bleibt damit auch die Frage, was Köln als Stadt denn eigentlich ausmacht. Lässt sich eine kollektive Mentalität (so es sie denn gibt) in Zahlen ausdrücken?
Eine nicht-repräsentative Umfrage nach der Vorstellung hat übrigens ein gespaltenes Meinungsbild ergeben. Kurzweilig sagen die einen, über Längen klagten die anderen. „Interessant“ fiel als Kommentar, ebenso wie „geht gar nicht“. Auf eine prozentuale Hochrechnung der gesammelten Eindrücke wurde verzichtet. Andererseits: Was lernen Studierende in der Einführung in die Methoden der empirischen Sozialforschung als erstes? Glaube keiner Statistik, die du nicht selbst gefälscht hast.
„100 Prozent Köln“ | R: Helgard Haug, Stefan Kaegi und Daniel Wetzel | Schauspielhaus Köln | keine Termine im Dezember | www.schauspielkoeln.de
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