Theater reagiert selten zeithistorisch aktuell. Das nö-theater köln zeigt im Theater Tiefrot mit „Der Vorgang Oury Jalloh“, dass es auch anders geht. Die Truppe um Regisseur Janosch Roloff hat sich den Fall des in einer Dessauer Polizeizelle verbrannten Flüchtlings vorgenommen. Oury Jallohs Tod liegt zwar fünf Jahre zurück, doch nach einem Entscheid des Bundesgerichtshofs wird der Fall im November neu aufgerollt. Das selbst entwickelte Stück stützt sich primär auf Originaldokumente und entwickelt daraus einen Abend, der Formen des Dokumentartheaters nutzt, ohne sich darauf zu beschränken.
Caroline Kur, Patric Welzbacher und Till Klein in Kapuzenpullis und braunen Hosen tragen auf der kargen Bühne die Statements der Polizisten, der Justiz und auch der Presse vor. Die Haltungen reichen dabei vom trockenen Bericht zur gesellschaftlichen Situation Dessaus bis zum verzweifelten Geständnis einer Polizistin vom Mobbing durch Kollegen. Szenen wie das Telefonat mit einem Arzt oder die Festnahme Oury Jallohs werden in unterschiedlichen Interpretationen durchgespielt. Kontrastierend dazu gibt Philipp Gramlich einen Conferencier, der durch den Abend führt, im Quiz die Ermittlungspannen abfragt und sich allmählich in ein klischiertes Zerrbild des dunkelhäutigen Oury Jalloh verwandelt. Gelegentlich fragt man sich, woher die Aussagen des Toten stammen, oder man wünscht sich individuellere Statements der Polizisten – nichtsdestotrotz ein berührender Abend der in Köln raren Dokumentartheaterform.
Völlig anders, doch nicht minder gelungen: „Macbeth in den Städten“, das Bettina Eberhard und Ulrike Schwab als begehbare Hörinstallation eingerichtet haben. Mit Hilfe eines MP3-Players, über den abwechselnd Verse Shakespeares und Wegbeschreibungen zu hören sind, wird der Zuschauer auf einen Parcours durch den Stadtraum geschickt. Vom Startpunkt am KölnTourismus-Schalter geht es direkt unter die Erde ins Dom-Parkhaus, wo sich römische Mauerreste und moderne PS-Schlachtrösser mit Macbeths Kampf gegen die Norweger verbinden. Der Garten von An Farina verwandelt sich zu Schloss Inverness mit Vogelgezwitscher und Lady Macbeth, die Flora zum englischen Hochland mit Macduff, Rosse und Malcolm. Immer wieder nimmt man irritiert die Kopfhörer ab, um akustische Imagination und Realität abzugleichen. Der betörende Soundtrack, den die Regisseurinnen mit Sounddesigner Gerd Nesgen, Komponist Gerriet K. Sharma sowie Schauspielern von Michael Wittenborn bis Jördis Triebel erarbeitet haben, stimuliert die Vorstellungskraft des Zuschauers zur Reinterpretation der städtischen Topographie. Auf erschütternde Weise verbindet sich so Macbeths Mord an König Duncan mit der Kriegsruine von St. Alban zum historischen Menetekel. Wenn man am Ende in der Rheinseilbahn den Wald von Birnam, also das Ufer, sich nähern sieht, wird zugleich ironisch deutlich, dass Theater immer eine Mischung aus technischem Budenzauber und vorsätzlicher Selbsttäuschung ist.
„Der Vorgang Oury Jalloh“ von nö-theater köln I Janosch Roloff I Theater Tiefrot I 24.-26.10., 20.30 Uhr
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