Nach dem Ende bleibt die Erzählung. Das Trauma ist den Bewegungen und der Sprache eingeschrieben. Mit dem verhaltenen Ton derer, die eine Katastrophe überlebt haben, berichten drei Personen in Fechtkleidung von dem „Erdbeben in Chili“. Während sie sprechen, erkunden sie den leeren Raum, begegnen sich, streben auseinander, sinken zu Boden, stehen wieder auf. Alles ist instabil.
Als 1755 ein verheerendes Erdbeben Lissabon zerstörte, wurden die Diskurse der europäischen Aufklärung nachhaltig von dem Ereignis beeinflusst. Auch Heinrich von Kleist verarbeitete die Naturkatastrophe 1807 in einer kurzen Novelle, der es nicht an schicksalhaften Zufällen, romantischer Liebe und brutaler Gewalt mangelt. Es geht um die verbotene Liebe von Jeronimo und Donna Josephe, die mit dem Tode bestraft werden soll. Ein Erdbeben verhindert die Hinrichtung Josephes und den Freitod Jeronimos in letzter Minute. Die Liebenden finden sich wieder, wähnen sich zunächst gerettet, werden dann aber doch Opfer einer völlig enthemmten Lynchjustiz.
Laurent Chétouane – als Regisseur bekannt für seine eher wortlastigen Arbeiten – lässt die Erzählung in der Halle Kalk ungestrichen und quasi pur ohne Dialogisierungen vortragen. Hier wird Literatur zelebriert, aber dem Theater insofern kein Gefallen getan, als sich eine bleierne Müdigkeit über Bühne und Zuschauerraum legt.
Die beiden Schauspieler Marie Rosa Tietjen und Jan-Peter Kampwirth und der Tänzer Philipp Gehmacher sprechen abwechselnd, begleitet von dem Gitarristen Leo Schmidthals, der immer im Hintergrund bleibt, sich nie aufdrängt. Dezent, aber in präziser Reaktion auf den Text, auch die Bebilderung auf einem großen Bildschirm im Bühnenhintergrund. Zu sehen sind ein Modell der Szenerie, später dann Idylle und Traumvisionen, menschliche Schemen – und schließlich sich überdimensional in den Raum ausbreitend die vielfarbige Rosette eines Kirchenfensters. In der Novelle ist der Platz vor dem Dominikanerdom in St. Jago Schauplatz eines grausamen Kindermords. Die Welt ist in Unordnung geraten, so dass normative Übereinkünfte keine Gültigkeit mehr besitzen – Vernunft oder zumindest Barmherzigkeit ist hier keine zu erwarten.
„Das Erdbeben von Chili“ von H. von Kleist | R: L. Chétouane | Schauspielhaus Köln | keine Termine im März | www.schauspielkoeln.de
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
Der Mensch als Scherbe
„Der zerbrochene Krug“ am Horizont Theater – Theater am Rhein 03/25
Totale Berührung
„Do not touch!“ am Theater der Keller – Theater am Rhein 03/25
De Rach vun der Fleddermus
„De Kölsche Fledermaus“ an der Oper Köln – Theater am Rhein 02/25
Das Ende der Herrlichkeit
„Der Fall Ransohoff “ am Orangerie Theater – Theater am Rhein 02/25
Überladenes Gezwitscher
Elfriede Jelineks „Am Königsweg“ und „Endsieg“ in Bonn – Theater am Rhein 02/25
Licht in der Finsternis
„Brems:::Kraft“ in Köln und Mülheim a.d. Ruhr – Theater am Rhein 01/25
Ausweg im Schlaf
„Der Nabel der Welt“ in Köln – Theater am Rhein 01/25
Klamauk und Trauer
„Die Brüder Löwenherz“ in Bonn – Theater am Rhein 01/25
Ein Bild von einem Mann
„Nachtland“ am Theater Tiefrot – Theater am Rhein 12/24
Im Land der Täter
„Fremd“ am Theater Bonn – Theater am Rhein 12/24
Fluch der Stille
„Ruhestörung“ am TdK – Theater am Rhein 12/24
Das Mensch
„Are you human“ am TiB – Theater am Rhein 12/24
Wege in den Untergang
„Arrest“ im NS-Dokumentationszentrum Köln – Theater am Rhein 10/24
Bis der Himmel fällt
Franz Kafkas „Der Bau“ am Theater der Keller – Theater am Rhein 09/24
Feder statt Abrissbirne
„Fem:me“ in der Alten Feuerwache – Theater am Rhein 07/24
Der Untergang
„Liquid“ von Wehr51 – Theater am Rhein 07/24
Alles über Füchse
„Foxx“ in den Ehrenfeldstudios – Theater am Rhein 07/24
Den Schmerz besiegen
„Treibgut des Erinnerns“ in Bonn – Theater am Rhein 07/24
Gefährlicher Nonsens
Kabarettist Uli Masuth mit „Lügen und andere Wahrheiten“ in Köln – Theater am Rhein 07/24
Vergessene Frauen
„Heureka!“ am Casamax Theater – Theater am Rhein 06/24
Freiheitskampf
„Edelweißpiraten“ in der TF – Theater am Rhein 06/24
Die Grenzen der Freiheit
„Wuthering Heights“ am Theater im Bauturm – Theater am Rhein 06/24
Menschliche Eitelkeit
„Ein Sommernachtstraum“ in Köln – Theater am Rhein 06/24
Verspätete Liebe
„Die Legende von Paul und Paula“ in Bonn – Theater am Rhein 05/24
Erschreckend heiter
„Hexe – Heldin – Herrenwitz“ am TiB – Theater am Rhein 05/24