Es ist nicht nur das belgische Ensemble von Ultima Vez, das während der Performance „Invited“ die Bühne betritt. Jung und alt, behindert und nicht behindert, Frauen, Männer und Diverse. Alle stehen gemeinsam im Mittelpunkt, singen zusammen, tanzen zusammen oder rennen um die Wette. Dabei steht lange die Frage im Raum: Wer ist hier Schauspieler und wer nicht? Eigentlich ist das aber auch nicht wichtig.
Das Tanzstück, das am Samstag im Zuge des Urbäng!-Festivals in der Orangerie zwei Mal aufgeführt wurde, spielt mit der Auflösung von Kategorisierungen wie Publikum und Künstler, arm und reich oder der Herkunft. Für den Zeitraum der Vorstellung wurde eine Gesellschaftsutopie geschaffen, in der jeder jeden auffordern darf, aufzustehen und mit ihr oder ihm ins Rampenlicht zu treten.
Der Theaterraum wird dabei von „The Rope“ begrenzt, einem 65 Meter langen Seil, das teils als runde Sitzgelegenheit, teils als Gegenstand der Performance dient. Immer wieder wird das Seil angehoben und von den Anwesenden in Schlangenbewegungen durch den Raum getragen. Es symbolisiert den Wunsch nach einer Gemeinschaft, in der alle an einem Strang ziehen, sich füreinander stark machen. Alle tragen ihren Teil dazu bei, das Seil zu führen. Wenn es abgelegt wird, beginnt das Ensemble, sich einzelne Personen aus dem entstandenen Sitzkreis herauszupicken. Hände werden sich gereicht, es wird sich lange angesehen und sogar umarmt. Wer eingeweiht ist, lässt sich nicht sofort erkennen. Die Gruppe um Choreograf Seppe Baeyens ist so unterschiedlich, wie eine urbane Gesellschaft nur sein kann. Da verwundert es manche, als sie von einem Jungen aufgefordert werden, ihm zu folgen. Schon nach den ersten Versuchen stehen auch Leute aus dem Publikum auf, bitten ihre Mitmenschen, sich auf das Fremde einzulassen, das auf einmal gar nicht mehr so fremd wirkt.
Das liegt auch an der eingängigen Choreografie Baeyens, die keinem Laien zu viel abverlangt, jedoch trotzdem das Gefühl von Gemeinschaft vermittelt: Sprünge, Tänze, Schreie, Läufe. „Invited“ zeigt den Menschen als soziales Wesen, das sich im Takt einer starken Live-Band gemeinsam hin und her bewegt.
Ultima Vez wurde 1986 als Kompanie für zeitgenössischen Tanz von dem Choreografen Wim Vandekeybus gegründet. Im sogenannten Problemstadtteil Molenbeek in Brüssel, aus dem auch die Islamisten der Pariser Anschläge kamen, haben er und Baeyens vor einigen Jahren ein partizipatives Labor für Tanz- und Theaterinteressierte eingerichtet: Eine der dort entstandenen Arbeiten ist „Invited“, die für das diesjährige Urbäng!-Festivals für performative Künste gewonnen werden konnte. Das Festival, das von der Freihandelszone – Ensemblenetzwerk Köln veranstaltet wird, hat die urbane Gesellschaft unter die Lupe genommen. Dabei ging es vor allem um Vielfalt, Toleranz und die Fähigkeit, eine Gemeinschaft zu bilden.
Das Gemeinschaftsgefühl löst „Invited“ bei fast allen aus. Manchmal ziehen sich die Mitglieder des Ensembles vollständig zurück, lassen nur das Publikum miteinander interagieren. Und als die Performer zum ekstatischen Lauf im Kreis bitten, erhebt sich das halbe Theater vom Seil und läuft mit. Am Ende geht das Licht aus und jeder ist wieder für sich selbst, kann singen und tanzen, wie er möchte. Bis die Vorstellung vorbei ist. Dann gibt es Applaus für das Ensemble. Und für das Publikum, von denen Einzelne kurzerhand mit ins Rampenlicht geholt werden.
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