1926 schien die Welt gerade wieder und noch in Ordnung. Die Weimarer Republik hatte sich notdürftig stabilisiert. Der rechtsradikale Terror und die linken Störmanöver hielten sich in Grenzen. Insofern wirkt Ödön von Horváths Hochstapler-Komödie „Zur schönen Aussicht“ wie ein kurzer Moment des Innehaltens. In einem Hotel treffen sich verkrachte Existenzen und spielen Biedermann: Hoteldirektor Strasser ist ein abgehalfterter Schauspieler und Autoschieber wie auch Kellner Max. Chauffeur Karl hat wegen Totschlags gesessen. Baronin Ada von Stetten hält sich mit ihrem Geld das Trio als Liebhaber und sichert so das Überleben des Hotels – bis Christine, die von Strasser schwanger ist, auftaucht. Als die Männer erfahren, dass auch sie reich ist, schwenkt ihre Verachtung um in ein groteskes Buhlen um die werdende Mutter. Ein Gespräch mit Regisseur Sebastian Kreyer, der Horváths Stück am Theater Bonn inszeniert.
choices: Herr Kreyer, wie unterhaltsam kann Armut sein?
Sebastian Kreyer: Horváths Stück „Zur schönen Aussicht“ ist eine Komödie, bei der einem das Lachen im Halse stecken bleibt. Alle Figuren sind finanziell abgebrannt, zwielichtig und tragen eine Maske, haben also eine andere Identität. *Auch* Christine, die von den Männern fertiggemacht wird, ist arm und hat nur durch Zufall Geld geerbt. Da ist das Stück schon eine sehr böse Komödie. Was Horváth gereizt hat, ist aber wohl weniger das arme, als das zwielichtige Milieu.
Gibt es solche verkrachten Existenzen heute überhaupt noch?
Das Stück hat etwas sympathisch Altmodisches, wie ein alter Krimi oder eine Boulevardkomödie. Eine doppelte Identität zu führen wie der Chauffeur, der im Knast saß, oder der Portier, der eigentlich Plakatmaler ist – eine solche Verschleierung funktioniert heute nicht mehr. Man hinterlässt doch überall Spuren.
Die Baronin Ada von Stetten sagt einmal: „Ich bin nämlich eigentlich ganz anders, ich komme nur so selten dazu.“ Ist irgendjemand der, der er scheint?
Ada ist nun gerade eine Figur, die ihre Identität nicht verheimlicht, die nicht vorgibt, jemand anderes zu sein. Sie spricht ganz offen von der Abhängigkeit der Männer ihr gegenüber. Da wird nichts verschleiert. Sie glaubt auch gar nicht, dass die Männer in sie verliebt sind, sondern sagt, das sind nur deshalb meine Sklaven, weil ich das Hotel finanziell am Laufen halte. Sie legt die Karten offen auf den Tisch und weiß um die Machtstrukturen. Die Abhängigkeit der Männer von Ada und ihrem Geld ist erst dann nicht mehr relevant, als mit Christine eine jüngere Frau auftaucht, die außerdem noch 10.000 Mark hat.
Das erinnert ja fast an Fassbinder?
Ja, diese Zusammenschaltung von Ökonomie, Gefühl und Sexualität kennt man auch von Fassbinder. Schon bei Horváth ist Sexualität unterfüttert mit Geld. Es ist schon brutal, wie die Männer Ada abservieren, als sie merken, dass Geld auch bei einer jüngeren Frau zu finden ist. Strasser, der Autos verschoben hat und ein gescheiterter Filmstar ist, bringt es am Ende gegenüber Christine auf den Punkt, wenn er sagt, ohne ihre zehntausend Mark würde er sie nicht lieben.
Ist diese Ehrlichkeit nicht eine besonders perfide Strategie?
Das ist die Frage: Ehrlichkeit oder Strategie. Gerade weil alle vier Männer zuvor behaupten, dass es ihnen überhaupt nicht um Geld ginge, ist das natürlich besonders überraschend. Das ist der Punkt, an dem Christine offener Strasser gegenüber wird. Da würde die Strategie wieder verfangen.
Wie naiv ist Christine, wenn sie in das Hotel kommt und Strasser, den Vater ihres Kindes, als Ehemann will?
Als sie endlich von ihrem Vermögen erzählt, sagt Strasser zu ihr: „Du wolltest als Bettelkind gefreit werden, du Kitsch!“ Wir untersuchen, inwieweit man Christine überzeichnen und sie trotzdem ernst nehmen kann. Sie ist nicht nur die reine Unschuld, sondern in ihrer Liebe liegt auch eine kleinbürgerliche Sehnsucht nach Glück. Darin liegt auch ein Klassenunterschied zu Ada.
Wo siedeln sie das Stück zeitlich an?
Wir bleiben im Ungefähren. Es ist weder Originalzeit noch Jetztzeit. Wir machen Anleihen an der Geschichte. Horvath analysiert nicht die kleinbürgerliche Schicht von heute, sondern von damals.
Inwiefern geht es auch ums Kleinbürgertum?
Die Geldgier und das Amoralische kommen zwar bei allen Klassen vor. Darin liegt die Boshaftigkeit dieser Komödie. Doch modern daran ist, wie sehr das Stück selbst in seiner komödiantischen oder boulevadesken Form den aufkommenden Faschismus benennt. Der Fabrikant Müller sagt einmal, man könnte ruhig eine Million Menschen vernichten, wir haben eh Überbevölkerung. Parallel zur „Schönen Aussicht“ ist auch Horváths Roman „Der ewige Spießer“ entstanden. Sein Thema ist das Kleinbürgertum, Inflation und Arbeitslosigkeit. Auch Christine wurde ja „abgebaut“. Und mit Inflation ist nicht nur das Geld, sondern sind auch die Werte gemeint, die entwertet wurden. Diese Analyse des Kleinbürgers finde ich sehr modern.
Komödie heißt Timing: Wie schnell muss man das Stück spielen?
Die Texte sind geschrieben für ein genaues Timing und eine gewisse Schnelligkeit. Zurzeit machen wir das recht boulevardesk, erkunden aber gleichzeitig, wo die Tiefe liegt. Die Männer-Figuren sind dabei etwas leichter zu fassen als Ada und Christine, bei denen man mit einer rein äußerlichen Aufgesetztheit nicht weit kommt. Wir wollen schon, dass man die Figuren ernst nimmt. Hinter den Überzeichnungen gibt es bei Horváth immer *den* Kern einer Figur. Doch wenn man die Figuren zu psychologisch auffasst, stimmt es auch nicht. Da suchen wir noch die goldene Mitte.
Wollen Sie Bosheit des Stücks ein wenig abmildern?
Verkrachte Existenzen sind mir per se sympathisch. Ich mag Anti-Helden wie den Sektvertreter Müller, der ins Hotel reist, um die Rechnung für sechs Kartons Sekt einzutreiben. Selbst diesen einfältigen Opportunisten zeichnet Horváth so, dass ich ihn mit einer gewissen Sympathie betrachten kann. Ich fände es schön, wenn auch der Zuschauer über die Figuren lacht und sich zugleich von ihnen anrühren lässt.
„Zur schönen Aussicht“ | R: Sebastian Kreyer | Fr 20.4.(P), Mi 25.4., Fr 18.5. 19.30 Uhr | Theater Bonn | 0228 77 80 08
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