Dumpinglöhne, Totalüberwachung am Arbeitsplatz und körperliche und psychische Überforderung – mit dem, was am gestrigen Abend Undercover-Journalist Günter Wallraff „systematisches Arbeitsunrecht“ nannte, kämpfen viele, die nicht zu den obersten zehn Prozent gehören, die in Deutschland zwei Drittel des Vermögens besitzen, viele davon aus der „A-Gruppe“ der Alten, Armen, Alleinerziehenden, Arbeitslosen, Ausländer. Das ist zum einen Thema des Buches „Die Lastenträger – Arbeit im freien Fall – flexibel schuften ohne Perspektive“ (Kiepenheuer & Witsch, € 14.99), in dem Wallraff („Günter Wallraff - Ganz unten“) als Herausgeber die ins Detail gehenden Berichte von Undercover-Reportern versammelt, die sich in den letzten Jahren tief in die Rachen von Amazon, Zalando, Hermes, GLS, Edeka, Mercedes und anderen Unternehmen, Agenturen und Konzernen hineingewagt haben. (Teils gab es darüber Fernsehreportagen.)
Zum anderen waren die Probleme nun Thema der „Lastenträger“-Podiumsdiskussion im Forum Volkshochschule im Museum, einer Veranstaltung der Vhs, der Integrationsagentur der Arbeitswohlfahrt BV Mittelrhein und work-watch e.V., mit Unterstützung des KiWi-Verlags und verd.di Köln sowie vielen weiteren Gewerkschaftern, die auch Informationsstände aufbauten. Es kamen mit etwa 200 Menschen mehr als erhofft, für die zum Teil noch Stühle herangeschafft wurden, während zum Auftakt die TnT Brassband Köln spielte.
Caro Lobig, die derzeit an Wallraffs fortgesetzter Reportage-Reihe „Team Wallraff“ (RTL) mitarbeitet, sprach über ihre auch im Buch und in einer „RTL Extra“-TV-Reportage dokumentierten drei Monate im Erfurter Logistik-Lager des Internet-Händlers Zalando, für den sie Artikel aus den Regalen holte. „Ich war ‚Pickerin‘, was für mich hieß, 20 bis 30 Kilometer am Tag laufen, was auch für jemanden, der sportlich ist, nicht einfach so machbar ist, mit total schlechten Arbeitsschuhen von Zalando und auf einem Betonboden. Vier Etagen, ungefähr 18 Fußballfelder sind die Hallen in Erfurt groß. Ich bekomme morgens meinen Scanner, scanne mich mit meiner Mitarbeiterkarte ein, das heißt, meine Teamleiter können mich verfolgen und die ganze Schicht über im Computer sehen, wo ich mich befinde. Ganz oft kam es vor, dass ich meine Arbeit gemacht habe, und plötzlich stand jemand hinter mir und hat gesagt. ‚Hi! Na, wie sieht’s aus? Hast du schon deine Zahlen heut‘ geschafft? Da schaun wir mal in den Laptop rein.‘ Die hatten ihr Laptop dabei, ein wunderschönes Profil über meine komplette Arbeit, was ich zu jeder Minute gemacht habe, welchen ‚Pick‘ ich wann gemacht habe und wann ich auch mal zwei Minuten nichts gemacht habe, z.B. wenn man auf Toilette geht oder kurz mal zwei Minuten steht oder sich traut, sich zu setzen. Da steht sofort ein Teamleiter vor einem. Das ist bei den Kollegen heute immer noch so, dass die so überwacht werden über diese Scanner-Geräte.“ Auch wenn Zalando es damals und heute abstreite, sei Sitzen effektiv noch immer verboten, auch wenn für die 2000 Mitarbeiter vielleicht zehn Stühle aufgestellt worden seien. Wer sich darauf setze, sei aber nicht mehr lange da.
Verträge würden bewusst auf etwas weniger als ein Jahr befristet. „Diejenigen, die rausgeschmissen werden, bekommen dann nicht das volle Arbeitslosengeld.“ Eine Entfristung nach dem zweiten Jahresvertrag fände in den seltensten Fällen statt, stattdessen arbeite Zalando mit dem örtlichen Arbeitsamt zusammen, um sich neue Leute zu holen. Die Fernsehreportage habe zu ein paar Veränderungen geführt, weil Zalando um sein Image besorgt war, reell habe sich für die Arbeiter aber bis heute wenig geändert. Es werde auf jeden Fall eine weitere Reportage geben.
Friedemann Immer, Lehrbeauftragter an der Kölner Musikhochschule, sprach über das Umsichgreifen von Lehraufträgen an den Hochschulen. Die Professoren würden für die gleiche Arbeit das drei- bis sechsfache einer Honorarkraft verdienen, seien aber an der Musikhochschule mit 120 zu 400 inzwischen weit in der Minderzahl. Die Honorarkräfte, die über die Hälfte des Unterrichts gäben, könnten nicht arbeitslos werden, obwohl sie in die Kassen zahlen, und auch nicht so einfach gegen Arbeitgeber klagen, da kein Dienstverhältnis bestehe. Während Kettenverträge gesetzlich verboten seien, gelte das nicht für „Kettenaufträge“. Die Landesregierung habe nun teilweise das Problem begriffen, nachdem man postalisch an alle Landtagsabgeordneten Informationen geschickt habe. Zuvor hätten Abgeordnete, wie man feststellte, einfach „überhaupt keine Ahnung“ gehabt. Wallraff ergänzte später, er sei darauf hingewiesen worden, dass nebenan, an der Volkshochschule, „dasselbe Elend“ herrsche.
Sybille Warnking arbeitete undercover im Altenpflegesystem, mit und ohne „Franchising“. Moderatorin Birgit Morgenrath erklärte, dass es mit dem Franchising immer so aussehe, dass der Franchisegeber sein Geschäftsmodell an den einzelnen Kaufmann verleihe und automatisch daran verdiene, ohne das unternehmerische Risiko zu tragen. Warnking erklärte, dass sie in ihrer Zeit bei einer amerikanischen Pflege-Agentur wenig arbeiten, aber immer verfügbar habe sein müssen. Durch lange Anfahrten und unbezahlte Schulungen sei sie auf einen tatsächlichen Stundenlohn von 3,55 Euro gekommen. Sie habe sich nie ausreichend qualifiziert gefühlt, dennoch würden die Krankenkassen diese Dienstleister, die sich aus medizinischen Dingen heraushalten müssen, meist anerkennen und quasi blind empfehlen. Da könne man als Pflegebedürftiger Glück oder Pech haben.
Von Werkverträgen wusste Wirtschaftsjournalist Jürgen Rose unter anderem anhand seiner Undercover-Erfahrung bei Mercedes am Montageband zu berichten. Die Werkverträge seien ein Geldsparmodell, das zu Niedriglöhnen führe; Vollzeit-Arbeiter müssten über das Arbeitsamt ihr Einkommen aufstocken. (Birgit Morgenrath sprach von 87 Milliarden, die 2011 insgesamt an Aufstocker ausgezahlt worden seien; sie muss 8,7 gemeint haben, die von der Bundesagentur für Arbeit veröffentlichte Zahl.) Dabei würden die gesetzlichen Vorgaben zu Werkverträgen nicht einmal eingehalten: Man werde „dort abgestellt an dem Band“, ohne von der Werkvertrags-Firma richtig eingeführt zu werden: „Wo ist hier ein Klo? Wo kriegt man was zu essen? Wo ist hier ein Spind? Wo kann man in der Pause hin? Diese ganzen Informationen kamen von der Stammbelegschaft. (…) Ich wurde eigentlich wie ein Mitarbeiter der Stammbelegschaft geführt.“ Nun klage der Konzern, es solle sich sogar um eine Art Verbandsklage handeln. „Das heißt, die deutsche Industrie hat Interesse daran, dass nicht zu viele Journalisten auf dem Betriebshof auftauchen. Deshalb wollen sie an uns das Beispiel exerzieren und bis in die letzte Instanz gehen.“
Kabarettist Wilfried Schmickler, leider etwas krank, warf vor der zweiten Diskussionsrunde einen eigenen wütenden Blick auf die deutsche Gegenwartsgesellschaft. „Wissen Sie, wenn ich diese Sprüche höre, von wegen Armut sei relativ, dann möchte ich am liebsten zum Dreschflegel greifen und den Leuten, die diese Sprüche von sich geben, die Arroganz aus dem Leistungsträger-Schädel prügeln. Stellen sie sich vor, sie sind krank und der Arzt verweigert Ihnen die Behandlung mit dem Argument, es gäb Menschen, die seien noch viel kränker als Sie. ‚Gucken sie mal auf den Friedhof, da wissen Sie, was krank ist!‘“
Stefanie Albrecht von der DGB-Beratungsstelle „Faire Mobilität“ machte in ihrem Bericht auf das Problem aufmerksam, dass im Baugewerbe viel Lohnbetrug an ausländischen Arbeitern wie Rumänen und Bulgaren ausgeübt werde, die die deutschen Gesetze und den im Baugewerbe üblichen Mindestlohn von 14,20 Euro nicht kennen. Um vor ein deutsches Gericht zu gehen, bräuchten sie Mut, Beratung und umfangreiche Begleitung. Eine häufige Strategie im Baugewerbe sei es, „dass man die Leute bezahlt und dann in den letzten zwei, drei Monaten hinhält (…) und dann ist der Auftrag zu Ende, die Leute werden entlassen.“ Die Gesetze im Baugewerbe würden im Prinzip relativ guten Schutz bieten, „aber man kann die Gesetze eben brechen.“
Günter Wallraff sagte zur Kriminalität in der Wirtschaft: „Die Behörden selbst sind überfordert. Es müssten härtere Strafen durchgesetzt werden, sonst können die das wie ein Trinkgeld abschütteln.“ Ihm sei kürzlich mitgeteilt worden, dass in Bayern gezielt Bulgaren und Rumänen vom Paketdienstleister Hermes angeworben worden seien, „mit dem Versprechen, sie würden dort als Paketfahrer 1000 Euro im Monat bekommen und Kost und Logis wären frei. (…) Jetzt kamen welche rüber (…) Ihnen wurden Unterlagen vorgelegt, die sie nicht lesen konnten, sie sollten das nur mal pro forma unterschreiben. Und sie haben damit unterschrieben, dass sie Selbständige sind, dass sie fortan selbst für alles haften müssen, dass sie für Unfälle aufkommen. Sie waren nicht krankenversichert. Und die Wohnungen, wo sie zu acht hineingestopft wurden – Männer und Frauen, die sich zuvor nicht kannten – waren ihnen nur so lange zur Verfügung gestellt, wie sie das auch machten. Wenn dann welche merkten, dass das ja nicht mal Scheinselbständigkeit, sondern eine reine Betrugssache war, konnten sie sich entscheiden, ob sie gehen wollten. (…) Das sind keine Einzelfälle.“ Den Mindestlohn versuche man nun auch irgendwie zu umgehen, bei GLS etwa würde nun von den Mitarbeitern verlangt, „noch mehr Stopps zu machen, die sie auch gar nicht schaffen können“.
Der Journalist Albrecht Kieser von work-watch sprach über abgebaute Schutzrechte und Deregulierungen, die etwa zum sachgrundlosen Befristen von Arbeitsverträgen einlüden. Die Gewerbeaufsichtsämter seien zugleich in den letzten 15 Jahren „personell um 25 Prozent heruntergefahren“, sodass natürlich kriminelles Handeln zunehme. Wallraff sprach von „einer bestimmten Sorte von Anwälten, die kriminelle Methoden anwenden, um jemanden rauszumobben.“ Die Zulassung werde ihnen aber nicht entzogen, obwohl Wallraff dies in einem Film beweiskräftig gemacht habe. Florian Pollok, Gewerkschaftssekretär bei ver.di, berichtete von einem Erfolg beim Logistikunternehmen trans-o-flex und den Versuchen, als Gewerkschaft in Unternehmen hineinzukommen, wo es noch keinen Betriebsrat gibt. „Die Unternehmen versuchen alles, um Betriebsräte zu verhindern.“ Er bedauerte, dass die Starken immer weniger zahlen müssen, anders als etwa nun in Griechenland. So sei der Arbeitgeberanteil bei der gesetzlichen Krankenkasse kürzlich gedeckelt worden.
Moderatorin Birgit Morgenrath hielt es für wichtig, dass Initiativen wie work-watch Öffentlichkeit herstellen würden, „weil die Menschen, die nicht unter solchen Verhältnissen arbeiten, davon zu wenig wissen! Selbst ich hatte gedacht, ich wüsste ziemlich viel und war entsetzt über die Sachen, die ich im Buch lesen musste.“ Das deutsche Recht würde für manche nicht gelten. Wallraff sagte: „Es hat System. Es sagt etwas über die Macht- und Kräfteverhältnisse in unserem Staat. Die Politik re-agiert oft nur noch, und wir haben eine der mächtigsten Lobbys hier in Deutschland. An jedem einflussreichen Politiker hängen Lobbyisten dran. Das ist nicht immer mit Geld, sondern sie werden eingebunden. Sie werden in solchen Kreisen herumgereicht, kriegen natürlich auch Honorare und man verkehrt miteinander. Das nenne ich auch ‚Kastengesellschaft‘. (…) Ich habe den Eindruck, es nimmt zu, es ist etwas im Gange, das demokratiegefährdend ist, und wir haben zu wenig Opposition.“ Kieser sagte, es müsse noch einmal einen Ruck durch die Gewerkschaftsbewegung geben.
Zum Buch erklärte Wallraff abschließend: „Es wird gerade versucht, das Buch zu verbieten.“ Die vorhandenen Exemplare sollen eingestampft werden, wobei es wohl um einen Informationskasten (S. 110) über die Arbeitslöhne bei internationalen Automessen ginge, für die Hersteller deutscher Nobelkarossen verantwortlich seien. Es werde wohl zum Prozess kommen.
Nach der Veranstaltung konnte das Publikum im Foyer bei Brezeln, Kölsch und Wasser mit den Beteiligten sprechen.
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