Eine Ausstellung irrlichtert rauschhaft durch Jahrzehnte. Der Wahnsinn hat Methode. Und die heißt Rainer Werner Fassbinder. Die Kunst- und Ausstellungshalle in Bonn zeigt das Enfant terrible der bundesrepublikanischen Filmgeschichte, einem Firestarter des Neuen Deutschen Films, der Zelluloidstreifen wie am Fließband belichtete und damit gleichsam eine ganze Gesellschaft polarisierte. Fassbinder hat in 13 Jahren mehr als 40 Filme gedreht, hat 26 davon selbst oder koproduziert, ist dazu in 40 Filmen (eigenen und fremden) als Darsteller aufgetreten, hat vier Hörspiele, 37 Drehbücher und 14 Theaterstücke geschrieben sowie 25 an deutschsprachigen Bühnen inszeniert. Ist es da ein Wunder, dass der Meister Kettenraucher, Alkoholiker und kokainabhängig war, dass er mit nur 37 Jahren an einem aufgeputschten Herzversagen starb?
Die großartige Retrospektive im ersten Stock der Bundeskunsthalle wandert an einem schier endlosen Zeitstrahl entlang, der nicht nur Daten des filmischen Werkes, sondern auch der deutschen Geschichte dokumentiert. Völlig irrwitzig sind die zusammengetragenen Devotionalien in Schaukästen und Vitrinen, zwischen den Originalschriften (niemand sollte seine Lesebrille vergessen) und wüsten Rechnungen hängen und stehen auch Filmpreise und Originalkostüme, aber auch sein Fahrrad und die Schreibmaschine Marke Triumph, auf der Fassbinders Mutter Skripte und Drehbücher tippte. Riesige Wandfotos aus den dokumentierten Filmen füllen die Räume, entrücken die Blicke wieder aus dem Kleinteiligen, zeigen auch, aus was für einem Schauspielerpotential Fassbinder in den 1970er Jahren schöpfen konnte. Viele seiner „Stars und Sternchen“ hat er allerdings selbst für sich entdeckt.
„Ich möchte für das Kino sein, was Shakespeare fürs Theater, Marx für die Politik und Freud für die Psychologie war“, sagte er mal einer französischen Zeitung und meinte damit, das nach ihm nichts mehr so sein sollte wie vor ihm. Das hat geklappt. Am eindrucksvollsten sind in Bonn die intimen kleinen Räume, in denen kurze Loops seiner Filme gezeigt werden, meist mehrere verschiedene nebeneinander, ein emotionaler Mehrwert, wenn der eine oder andere blutjunge Filmhelden seiner Jugend wiederentdeckt.
Methode Rainer Werner Fassbinder | bis 6. März 2022 | Bundeskunsthalle Bonn | 0228 917 12 00
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
Wunderkammer aus Spielzeug
Mark Dion in der Bundeskunsthalle Bonn
Ein Teil des „Wir“
Diskussion in der Bundeskunsthalle – Spezial 08/23
Arbeitsstreik und Lebensdichtung
„Her mit dem guten Leben!“ in der BKH Bonn – Spezial 0623
Welcome to the Shitshow
„Ernsthaft!?“ in der Bonner Bundeskunsthalle – Kunstwandel 01/23
Visuelles Gesamtkunstwerk
Die Oper als Ausstellungsobjekt in Bonn – Kunstwandel 11/22
Bunt ist oft nicht unpolitisch
„Farbe ist Programm (Teil 1)“ in der BKH Bonn – Kunstwandel 06/22
Eine Ikone des Feminismus
Simone de Beauvoir-Ausstellung in der BKH Bonn – Kunstwandel 04/22
Straßenbahnhaltestelle als Plastik
„Beuys-Lehmbruck“ in der Bundeskunsthalle – Kunstwandel 08/21
Dreireiher versus Jogginghose
Dress Code in der Bundeskunsthalle – Kunstwandel 07/21
In Zeitlupe durch brennende Wälder
Julius von Bismarck in der Bundeskunsthalle – Kunstwandel 10/20
Immer gegen Konventionen
Zeitreise der Doppelbegabungen in der Bundeskunsthalle – Kunstwandel 08/20
Ausbeutung für die Verschwendung
„Wir Kapitalisten“ in der Bundeskunsthalle – Kunstwandel 06/20
„Was ist ,analoger‘ als der menschliche Körper?“
Kuratorin Elke Kania über „Zeit-Bilder.“ im Aachener Kunsthaus NRW Kornelimünster – Interview 01/25
Mehr als Bilder an der Wand
„Museum der Museen“ im Wallraf-Richartz-Museum – kunst & gut 12/24
Vorgarten der Unendlichkeit
Drei Ausstellungen zwischen Mensch und All – Galerie 12/24
Vorwärts Richtung Endzeit
Marcel Odenbach in der Galerie Gisela Capitain – Kunst 11/24
Mit dem Surrealismus verbündet
Alberto Giacometti im Max Ernst Museum Brühl des LVR – kunst & gut 11/24
Außerordentlich weicher Herbst
Drei Ausstellungen in Kölner Galerien schauen zurück – Galerie 11/24
Fragil gewebte Erinnerungen
„We are not carpets“ im RJM – Kunst 10/24
Geschichten in den Trümmern
Jenny Michel in der Villa Zanders in Bergisch Gladbach – kunst & gut 10/24
Ein Himmel voller Bäume
Kathleen Jacobs in der Galerie Karsten Greve – Kunst 09/24
Leben/Macht/Angst
„Not Afraid of Art“ in der ADKDW – Kunst 09/24
Lebenswünsche
„Körperwelten & Der Zyklus des Lebens“ in Köln – Kunst 09/24
Die Freiheit ist feminin
„Antifeminismus“ im NS-Dokumentationszentrum – Kunstwandel 09/24
Atem unserer Lungen
„Body Manoeuvres“ im Skulpturenpark – kunst & gut 09/24