Sie sind zu sechst, alle beredt: Bernard, Louis, Neville – drei Jungs. Und drei Mädchen: Jinny, Rhoda und Susan. Virginia Woolf lässt sie ihre Leben erzählen, als Ich-Erzähler, oft in inneren Monologen, manchmal im Gespräch miteinander, immer im absoluten Jetzt. Sie erzählen von den leichten Spielen der Kindheit bis zur Schwere des Alters. Statt Kapitelüberschriften beschreibt eine äußere Stimme, wie die Sonne hinter dem Meer aufgeht und versinkt; ein Tag wird symbolistisch zur Parallele für die Leben der Freunde. Als Kinder toben sie durch die Natur und spielen das große Abenteuer. Sie wachsen auf, begleitet vom rhythmischen Rollen der Wellen. Sie beschreiben Momente, die aus dem Strom herausragen, in Licht und Farbe: Man findet pointilistische, expressionistische, kubistische Elemente. Alle sechs kämpfen sie gegen Indifferenz, gegen das Ineinander-Übergehen ihrer Persönlichkeiten. Am Ende bleibt Bernard das letzte Wort, dem Romancier, der sich sein Leben lang als viele Persönlichkeiten assoziiert. Womöglich hat er sechsmal von sich selbst gesprochen.
Als junger Mann schreibt Bernard einen Brief, und alles ist inszeniert: Er schafft sich eine Identität, die im ständig reflektierten Schaffensprozess in mindestens zwei Identitäten auseinanderfällt. In Katie Mitchells Inszenierung sieht man zwei Schauspieler an einem Tisch sitzen, zwei Kameras sind auf ihre Hände gerichtet, ihre Bilder werden auf eine Leinwand nebeneinander projiziert. Der eine Schauspieler fuchtelt mit der Feder über das Papier, der andere gießt sich Tee ein. Die Tasse wird aus einem Bild ins andere gereicht. Beides ist Bernard.
Choreographie eines Live-Hörspiels
Percival, der im Roman selbst nie zu Wort kommt, sondern als Wunsch- und Projektionsfläche der anderen dient, stirbt unerwartet: In der zweieinhalbstündigen Inszenierung wird dieser Tod zum Bruch im Lebenslauf der Freunde. Scharf schneidet das Licht Gesichter aus dem Dunkel. Rhythmisch rollen die Wellen, steppen die Füße, werden Requisiten von acht Regalen emsig hin- und hergeräumt. Gesichter, Hände und Schwämme ertrinken in Aquarien von großer Tiefe, Schatten küssen sich hinter einem Laken, Tauben flattern auf. Wir können sehen, woher die Bilder kommen. Wir sehen, wie eine Überblendung zwei weit entfernte Motive zusammenbringt, wie Darsteller fremde Rollen übernehmen, wie die Geräusche zu den Bildern entstehen: ein Live-Hörspiel mit hochkonzentrierter Choreografie, in dem sich alle im Ensemble aufeinander verlassen können müssen.
Katie Mitchells Inszenierung schafft einen erotischen Sog: In dieser Sinnenfülle möchte man baden und kann doch immer nur einen Teil erfassen. Das warme Licht, die Blusen und Rüschen täuschen Nostalgie vor. Aber in der Gleichwertigkeit der Inszenierungselemente ist „Die Wellen“ in Köln postdramatisches Theater pur – und gerade dadurch texttreu.
„Die Wellen“ von Virginia Woolf
Regie: Katie Mitchel
Schauspielhaus Köln
weitere Aufführungen im Juni
0221 22 12 84 00
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