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Ausstellungsansicht
Foto: Tobias Wootton © The Warburg Institute, London / fluid

Die Mutter aller Musen

10. Juni 2021

Aby Warburg in der Bundeskunsthalle – Kunstwandel 06/21

Leichte Kost ist die Ausstellung „Aby Warburg: Bilderatlas Mnemosyne – Das Original“ sicher nicht. Zugegeben. Aber wer sich in der Bonner Bundeskunsthalle auf die überschwappende Bilderflut einlässt, wird mit überaus interessanten Wahrnehmungen den Kulturtempel verlassen und hat eine der wichtigsten Legenden der deutschen Kunstgeschichte gesehen. In den 1920er Jahren entwickelte der Kunst- und Kulturwissenschaftler Aby Warburg (1866–1929) zusammen mit seinen Mitarbeiter*innen Gertrud Bing und Fritz Saxl den als Buchprojekt geplanten Atlas, der wiederkehrende visuelle Themen, Gesten und Muster von der Antike über die Renaissance bis zur Gegenwartskultur nachzeichnet. Es geht auch um Götter und Nymphen und wie sie in der Kunst immanent blieben. Mnemosyne ist schließlich auch die griechische Göttin der Erinnerung.

Kunst der Erinnerung

Nehmen wir als Beispiel die Tafel 55. Es geht in den Betrachtungen von der Hochrenaissance ausgehend auch um die Frage, warum heidnische Helden in den katholischen Moralkontext aufgenommen wurden und welche Absicht dahinter steckte. Zu sehen ist aber auch wie Bildteile sich über Jahrhunderte veränderten und verselbstständigten. Nicht nur dass bei Raffaels „Das Urteil des Paris“ (um 1510) die mythologischen Figuren noch alle nackt waren, es taucht eine Dreiersitzgruppe aus dem Werk auch 350 Jahre später bei Eduard Manets „Das Frühstück im Grünen“ (1863) als zentrales Bildmotiv wieder auf, ein Zitat, das wegen bekleideter Herren und einer unbekleideten Frau zu Hohn und Spott führte. Auch Neptun tauchte als Wassergott erst wieder in Bildern der Renaissance auf, nachdem Amerika von Kolumbus 1492 wiederentdeckt wurde (Tafel 60). Das sind Querverbindungen in der Arbeit Warburgs, die der Betrachter auch ohne kunsthistorische Vorbildung auf den 63 großen schwarzen Tafeln zwischen fast 1.000 Reproduktionen finden kann. Dabei „steckt der liebe Gott im Detail“, so ein Zitat des akribischen deutsch-jüdischen Forschers, der in seiner Arbeit auch kunstfremde Wissenschaften einbezog und dafür oft von den Puristen angefeindet wurde.

Monströse Postmoderne

Den beiden Kuratoren Roberto Ohrt und Axel Heil ist es zu verdanken, dass die riesige originale Bilderwelt im Foto-Archiv des Londoner Warburg Institute wiedergefunden wurde, wohin sie 1933 vor den Nationalsozialisten in Sicherheit gebracht wurde. Jahrzehnte lang blieb die wissenschaftliche Arbeit von Warburg und seinem Stab verborgen, obwohl sie nicht nur neue Maßstäbe, sondern auch ungewöhnliche Ansätze in der Betrachtung vom Bild und seinen Metaphern lieferte. Jetzt stellt die Bonner Ausstellung die letzte dokumentierte Version des Atlas von 1929 nahezu vollständig mit den Originalabbildungen wieder her.

Und da sind wir gedanklich natürlich längst in der monströsen Bilderwelt der Postmoderne angekommen, die in keinen Atlas mehr passen würde. Warburg beschäftigte sich auch mit den zeitgenössischen Strömungen in der Bildgestaltung seiner Zeit, die letzten Tafeln zeigen Erzeugnisse der damaligen Medienwelt: Reklame, Briefmarken und Pressefotos. Auch hier lassen sich antike Motive entdecken, die endlose Jahrhunderte überdauerten und einstige Gottheiten bereits zu Werbe-Ikonen machten. Heute liefert die Suche nach Poseidon im weltweiten Web mindestens 50 Millionen Treffer. Aby Warburg hatte nur seine Zettelkästen, von denen einer am Eingang ausgestellt ist.

Aby Warburg: Bilderatlas Mnemosyne – Das Original | bis 25.7. | limitierte Zeitfenster-Tickets | Bundeskunsthalle Bonn | www.bundeskunsthalle.de/aby-warburg.html

Peter Ortmann

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