Ludwig van Beethovens 250. Geburtstag hat in diesem Jubiläumsjahr quer durch die Sparten Inspiration zu Programmgestaltung und neuen künstlerischen Projekten geboten. Es liegt nahe: Der wohl meist gespielte deutsche klassische Komponist überzeugt Hörer wie auch Performer, obwohl er an den Grenzen der Musik riss und seiner Zeit als radikal galt. Heute wird er in einer klassischen „Hochkultur“ verortet, scheint oft nur den Priveligierteren der Gesellschaft in den Konzerthäusern vorbehalten zu sein, und seine Musik dringt nur selten aus der Blase.
Das junge Theaterensemble „Familie Rangarang“ aus Bochum hat sich das Beethovenjahr zum Anlass genommen, diese Strukturen zu hinterfragen und auf künstlerische Weise aufzubrechen: „Bye, bye Hochkultur — Als die Hochkultur vom Sockel“ stürzte heißt das unter der Regie von Sibel Polat entstandene Stück, das beim BOHEI-Festival für junge Akteur*innen im Kölner Comedia Theater am 23. September Premiere feierte. Gar keine leichte Aufgabe. Wie nimmt man sich etwas einerseits so Diffuses und andererseits so Starres wie die Hochkultur vor? Und was ist das überhaupt, Hochkultur?
Die sogenannte Hochkultur
Am Begriff selbst hängt eine imperialistische Ideologie, er beschreibt nicht nur Kultur, sondern Gesellschaften. Er entwickelte sich in einer Zeit, in der man vom historischen Voranschreiten einer Gesellschaft zu höheren Zivilisationsformen ausgegangen ist. Sich kritisch mit diesem Begriff zu beschäftigen, setzt eine Auseinandersetzung mit Kolonialisierung und dessen Folgen voraus. Ihn zu verwenden, verweist darauf, dass diese Ideologie noch wirkmächtig ist.
In einem Musikworkshop mit der Kölner Künstlerin Kaleo Sansaa, der der Probenphase vorausgegangen ist, haben die jungen Akteure über den kulturellen Kanon, das „Eigene“ und das „Andere“ sowie dekolonialistische Ansätze im kreativen Prozess diskutiert. Auch Beethoven, der einigen Beteiligten vorher kein Begriff gewesen ist, haben sich die Ensemblemitglieder angehört: „Wir waren uns einig, die Musik ist schön“, sagt Michael Moser, Spielleitung. Ab dem ersten Moment an, ist die Kritik nicht daraus erwachsen, womit sich die sogenannte Hochkultur beschäftigt, sondern warum sie so ausschließend ist. „Es ging nie um das Abwerten, sondern darum, das Eigene aufzuwerten“, so Moser.
Wunsch des Dazugehörens
In den ersten Minuten des Stücks wird klar: Dekolonisieren ist auch etwas Körperliches. Um das Eigene, das „Ich“ überhaupt erst zu erfahren, schütteln die Performer die aufgestülpte Kultur förmlich ab. Das Publikum beobachtet sie dabei durch einen Vorhang, auf den Videos projiziert werden, und schaut auf sie wie auf Gefangene. Doch sie schauen zurück. Selbstbewusst und menschlich treten sie einander und dem Publikum gegenüber. Der Vorhang wird zum Spiegel. Sie haben der Hochkultur etwas entgegenzusetzen: sich selbst.
Anna Reizbikh, die seit dieser Produktion Teil des Ensembles ist, erklärt: „Unter uns sind impulsive wie introvertierte Charaktere, sie alle bringen ihre Sichtweise in das Stück.“ Nicht nur in das Stück, sondern auch in das Gesamtbild der Kultur, so ist der Tonus. Und so suchen die Personen auf der Bühne nach ihren eigenen Opern, summen die in Familien gelernten Lieder oder brechen in einen Popsong aus. Es ist eine persönliche Suche, aber immer auch eine gemeinschaftliche. Denn sie rührt aus dem Wunsch des Dazugehörens her. Ein Gefühl, das viele der Mitglieder des Ensembles Familie Rangarang, das von der Flüchtlingshilfe Weitmar gegründet wurde, selbst erfahren haben.
Mischung aus Interviews und Schauspiel
Ausgerechnet Theater, das viele aus dem Team mit traditioneller Hochkultur assoziieren, hat ihnen, wie auch der Name des Ensembles vermuten lässt, eine Möglichkeit dazu geboten. In einer Mischung aus Interviews und Schauspiel teilen die Performer ihre Erfahrung der Suche nach dem Eigenen und streifen auf ihrem Weg Fragen nach Freiheit und Identität. Sie fordern zu Offenheit auf und verhandeln die Deutungshoheit über Kultur neu. Zu diesem organischen und intuitiven Prozess der musikalischen Selbstfindung setzt das Stück Szenen mit Beethovens Musik, die wohl repräsentativ für die Hochkultur steht, in Kontrast.
Steife, antrainierte Bewegungen begleiten die Orchesterklänge und verleihen diesen etwas Zwanghaftes, aber auch etwas Gewaltvolles. Diese Darstellung erlebt ihren Höhepunkt, als der zur Europahymne deklarierten Chor der 9. Sinfonie „Freude, schöner Götterfunken“ entstellt durch die Lautsprecher dringt und in seiner Gewalt fast unheimlich die Bühne tränkt. Wie das Einschlagen einer Bombe reißt der Choral die Performer zu Boden. Im Kontext der Flüchtlingspolitik Europas ein Bild, das nicht aktueller und treffender sein könnte.
Der Familie Rangarang, das für die Produktion von jungen Musikern der Musikschule Bochum erweitert worden ist, gelingt durch ihre persönliche Auseinandersetzung mit dem kulturellen Kanon ein hoffnungsvoller Ausblick für eine vielfältige Gegenwart und Zukunft. Ob ausgerechnet Popkultur den Weg aus den steifen Händen der Hochkultur weist oder bestenfalls als Platzhalter und Mittel des Ausbrechens dient, bleibt zu hinterfragen. Fragen zu stellen, Fragen überhaupt erst in sich laut werden zu lassen, dazu fordert „Bye, Bye Hochkultur — Als die Hochkultur vom Sockel stürzte“ in jedem Fall auf.
Bye, Bye Hochkultur — Als die Hochkultur vom Sockel stürzte | R: Sibel Polat, Manuel Moser | WA in Köln Anfang 2021 | byebyehochkultur@ct201.de
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