Es ist schon eine schöne Tradition geworden, dass sich die Comedia in jeder Spielzeit Stoffe aus dem aktuellen Literaturbetrieb sucht, um frisches, experimentierfreudiges Theater präsentieren zu können. Die Ergebnisse sind durchweg interessant, das Gelingen fällt unterschiedlich aus, manchmal wirkt das, was man auf der Bühne sieht, aber auch dramatischer als die Romanvorlage, aus der es entwickelt werden musste. Ein Kunststück, das mit der aktuellen Produktion wieder einmal gelingt.
Zuhause ist man dort, wo man so akzeptiert wird, wie man ist. Deshalb hält sich Adrian (Marc-Andree Bartelt) auch mehr im Nachbarhaus bei seiner Freundin Stella Maraun (Nadja Duesterberg) als bei seiner Mutter (Dorothea Förtsch) auf. Die schleift Adrian von Therapie zu Therapie, um ihm mit Hormonbehandlungen das Wachsen auszutreiben. „Einsneunzig“ nennt ihn Stella liebevoll, da Adrian diese Höhe schon mit 14 Jahren angenommen hat. Aber was spielt das schon für eine Rolle, mit Stella an seiner Seite fürchtet sich Adrian vor nichts in der Welt.
Aber dann zieht eine neue Familie in das Haus gegenüber, und deren Sohn Dato zieht Stella magisch an. Das Drama kann beginnen. „Schneeriese“ heißt der Roman von Susan Kreller, der ihr im letzten Herbst den Deutschen Jugendliteraturpreis einbrachte. Für die Comedia bereitete Maren Van Severen den Stoff unter dem Titel „Einsneunzig oder Die Augen von Stella Maraun“ dramaturgisch geschickt zu. Christoph Haninger entfaltet mit seiner Regie Adrians Innenleben auf der Bühne wie ein Labor, das letztlich zu einem seelischen Schlachtfeld wird. Zwischen der Hollywoodschaukel, in der Adrian als Kind mit Stella glücklich war, und dem glühend beleuchteten Haus der Nachbarn, erfüllt sich sein Schicksal. Eifersucht kocht in ihm hoch, bis alles in Nebel getaucht ist. Und wenn sich Adrian schließlich zum Sterben im Schnee niederlegt, weil ihm die Worte fehlen, um einen Ausweg aus seiner Verzweiflung zu finden, verschwindet er fast in einem Knäuel aus Papier.
Über seine seelische Not und das Feuer der Eifersucht, vermag er mit Stella nicht zu reden. So erleben wir einen tobenden, schreienden jungen Mann auf der Bühne, der nicht weiß, wohin mit seinem Zorn. Marc-Andree Bartelt kämpft sich physisch durch diese Rolle im Versuch, Betroffenheit für Adrians schleichende Niederlage zu erzeugen. Verzweiflung kann aber auch still und bohrend sein, die lauten Töne verhehlen nicht die subtile Seite des Schmerzes. Mit zunehmender Spielzeit rückt eine andere Gestalt ins Zentrum des Stücks. Eine alte Nachbarin, Miss Elderly, findet Adrian und verschweigt ihm nicht, dass Liebeskummer nie so ganz versiegt. Das Mal der Verletzung wird bleiben, auch wenn es weniger schmerzt. Nika Wanderer spielt die weise Alte mit einer roten Perücke und klingt in jedem Satz lakonisch, cool und tröstlich zugleich. Die Faszination ihres Spiels verleiht der Inszenierung Witz und Aufrichtigkeit. Sie muss die Bitterkeit der Melancholie nicht unter den Tisch kehren, aber das Leben muss am Liebeskummer auch nicht scheitern. Gleichwohl bleibt das Sujet einer Liebesgeschichte interessant, die nicht gut endet und dabei eine Vorstellung von der Ohnmacht gibt, der man ausgesetzt ist, wenn ein anderer die Gunst der Geliebten erobert.
„Einsneunzig oder Die Augen von Stella Maraun“ | R: Christopher Haninger | Comedia | 0221 888 77 222
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