Berufene Menschen versuchen uns weiszumachen, dass wir aus der Geschichte lernen sollen, ohne vereinfachende Parallelen zur Gegenwart zu ziehen. Shakespeare dramatisiert in acht seiner insgesamt zehn Königsdramen die einhundertjährige kriegerische Auseinandersetzung der Adelshäuser York und Lancaster um die englische Krone im 15. Jahrhundert. In diesen sogenannten „Rosenkriegen“ geht es um die Legitimität von Herrschaft, um Krieg und Invasion, um Verrat und strategische Bündnisse. Aus heutiger Sicht wirken die Stücke wie Blaupausen im Kampf um die Macht. 1999 hat der belgische Regisseur Luc Perceval bei den Salzburger Festspielen acht Königsdramen von Shakespeare an einem Abend auf die Bühne gebracht. „Schlachten!“ hießt das Projekt damals. Seitdem haben deutsche Theater immer wieder Anläufe zu zyklischen Aufführung gemacht, zuletzt im Januar in Bremen. Jetzt macht das Theater Bonn unter dem Titel „Königsdramen I + II“ einen neuen Versuch.
choices: Frau Buddeberg, acht Stücke an einem bzw. zwei Abenden zu inszenieren, dafür braucht es ein großes Ensemble, Geld und gute Nerven. Gehören solche Überforderungen zum Theater?
Alice Buddeberg:. Es ist vor allem aufgrund der Größe des Stoffes tatsächlich eine Überforderung. Aber wir haben mit acht Schauspielern eine normale Besetzung und einen normalen Bühnenbildetat. Wir haben die acht Stücke auch auf einen Kern zusammengestrichen, insofern ist die Überforderung nicht mehr ganz so groß. Es werden zwei Dreistundenabende, und es ist sicher anstrengend für die Schauspieler, so lange die Konzentration zu halten. Umso mehr, weil alle immer auf der Bühne sind. Aber gerade das ist es, was die Kollegen dann auch wieder reizt.
Ursprünglich sollten von Beginn an beide Stücke an einem Abend gezeigt werden. Wieso haben sie sich jetzt für zwei Abende entschieden?
Es war die Krankheit des Schauspielers Bernd Braun, die uns gezwungen hat, die Premiere des zweiten Teils in den November zu verschieben. Das Reizvolle bleibt trotzdem die Aufeinanderfolge dieser Könige – dass die Fehler des einen unweigerlich die Übernahme der Verantwortung des nächsten Königs nach sich zieht, der sich dann ebenfalls schuldig macht. Ab Dezember werden wir beide Teile auch an einem Abend zeigen.
Shakespeare-Dramen verfügen über reiche Nebenhandlungen mit vielen Figuren. Wie entgeht man der Gefahr, die Dramen völlig zu skelettieren?
Es ist eine radikale Fassung, eine Setzung, die der Autor und Übersetzer Thomas Melle und ich vorgenommen haben. Ich glaube, dass es gar nicht anders geht. Es hat einen Grund, warum „Heinrich VI.“ so selten in voller Länge gespielt wird. Wir haben die acht Stücke auf den Grundkonflikt des Königseins reduziert. Wie gehe ich als Mensch mit dieser Macht um? Wie einsam ist man in dem Moment, in dem man diese Verantwortung übernimmt? Wie paranoid wird man zwangsläufig? Diese Strukturen zu untersuchen, hat mich besonders interessiert. Kriegerische Schauplatzwechsel oder das Auftreten von Rebellen reduzieren sich dabei zu Platzhaltern für Probleme, die das Königtum mit sich bringt.
Warum haben Sie Thomas Melle hinzugezogen. Gibt es nicht schon genug zeitgenössische Shakespeare-Übertragungen?
Thomas Melle ist ein Autor, mit dem ich schon einmal sehr gut bei einer Uraufführung eines seiner Stücke zusammengearbeitet habe und den ich für einen sehr guten Dramatiker halte. Es gibt bisher eigentlich nur „Schlachten!“ als Bearbeitung, die aber etwas anderes erzählt, als ich erzählen möchte. Dann gibt es nur zwei Übersetzer, die alle Königsdramen ins Deutsche übertragen haben. Um eine sprachliche Einheit herzustellen, war es nötig, Thomas Melle hinzuzuziehen. Es ist eine kräftige Sprache, die Verweise auf das Heute beinhaltet, ohne sich anzubiedern.
Shakespeare entfaltet in den Königsdramen ein Geschichtspanorama, das sich als Analyse politischer Machtstrategien interpretieren lässt. Welche Erkenntnisse lassen sich daraus für die Gegenwart formulieren?
Ich glaube, dass wir in einer Welt und einer Gesellschaft leben, die das Ich zum König gemacht hat, also wir alle der Welt gegenüber immer eine Herrscher-Position einnehmen. Schon als Kinder werden wir als etwas Besonderes großgezogen. Dann müssen wir diese Besonderheit in unserer Lebensführung beweisen, müssen uns der Umwelt gegenüber möglichst verantwortungsvoll verhalten. Oder wir nehmen uns aufgrund unserer Besonderheit das Recht, unsozial zu agieren. Diese Konflikte durchlebt jeder. Daraus erwachsen eine Vielzahl von psychischen Erkrankungen wie Neurosen oder Depressionen. Das widerfährt auch den Königen in diesen Stücken immer wieder. Richard II. fragt schon zu Beginn, was er denn jetzt noch sei, nachdem er die Krone abgelegt hat.
Inwieweit ist dieses Setzung eines royalen Ichs eine explizit politische Frage? Besteht nicht die Gefahr, durch diese Individualisierung die Konflikte zu verkleinern?
Das ist natürlich keine tagespolitische Frage. Die Funktion des Königs bedeutet, dass ich eine Verantwortung für die acht Leute habe, die an diesem Abend spielen. Ich kann mit dem Begriff Verantwortung etwas mehr anfangen als mit dem Begriff Macht. In dieser Übernahme der Verantwortung liegt die politische Funktion des Königs. Und darin liegt dann auch die gesellschaftlich und deshalb auch politisch bedeutsame Grundfrage: Wie leben wir und wie wollen wir leben?
Liegt in dem Auf und Ab der Könige, in der unausweichlichen Wiederkehr von Macht und Machtverlust nicht auch ein gefährlicher Determinismus, dem wir nicht entkommen?
Natürlich ist es der immer gleiche Mechanismus, dass ein König den nächsten tötet. Aber zum einen verdichten wir die Stücke auf die Frage nach dem Ich. Zum anderen sind die Könige sehr unterschiedlich. Bei „Richard II.“ geht es um das lustvolle Spiel mit der Macht, deren Verlust im Wahn endet. „Heinrich IV.“ führt einen merkwürdig privaten Konflikt zwischen Vater, Sohn und Ziehsohn vor. Heinrich V. ist als Herrscher derart triumphal, dass sich das auch als pathologische Allmachtsphantasie interpretieren lässt. Der kindliche Heinrich VI. ist eher ein Machtverweigerer und Richard III. schließlich geht an der Macht regelrecht kaputt. Das sind für mich sehr unterschiedliche Facetten des gleichen Themas, die nach Möglichkeiten fragen, ob man damit nicht anders umgehen kann.
Spielen Frauen eigentlich eine Rolle in den Stücken?
Ja, zunehmend. In „Heinrich VI.“ fängt es an. Laura Sundermann wird schließlich die Rolle des Richard III. übernehmen. Das ist weniger eine konzeptionelle Entscheidung. Ich glaube einfach, dass Laura Sundermann eine hervorragende Schauspielerin ist, die das kann. Außerdem geht es dabei um derart menschliche Züge, dass das genauso gut auch Frauen spielen können.
„Königsdramen I + II“| Regie:Alice Buddeberg| Königsdramen I: 3.10. 16 Uhr, 10.10, 11.10., 15.10., 19.10. 19.30 Uhr; Königsdramen II: 28.11., 5.12.,14.12., 18.12., 20.12. 19.30 Uhr| Theater Bonn | 0228 77 80 08
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